Das Lachen und der Tod (German Edition)
Schulter.
»Wo ist dein Bruder?«, fragte ich.
Der Junge schüttelte traurig den Kopf. Ein paar Monate lang waren die beiden mit anderen eineiigen und zweieiigen Zwillingen, mit jungen und alten, weiblichen und männli chen, in einer Spezialabteilung des Krankenreviers einge sperrt gewesen. Für medizinische Experimente, aber das wusste er damals noch nicht.
Der deutsche Arzt war ein freundlicher Herr, die Kinder waren ganz verrückt nach ihm, so Jaap. Eines Tages hatte er die de-Ronde-Zwillinge ausgewählt. Jaap und Ben durften ein Streichholz ziehen, ohne zu wissen, warum. Jaap zog das Kürzere. Der Arzt beglückwünschte Ben und nahm ihn mit. Tagelang hörte Jaap nichts mehr von seinem Bruder, um dann einfach so in die Küche versetzt zu werden. So etwas geschah sonst nie. Den Rest des Krieges über hatte er jeden Tag Kartoffeln schälen müssen, aber immer genug zu essen gehabt. Erst vor einer Woche, nachdem er das Interview in der Zeitung gelesen hatte, begriffe er, warum er als Einziger weggedurfte. Von Ben hatte er nie mehr etwas gehört.
»Mein Bruder möchte, dass ich weiterlebe«, sagte Jaap de Ronde unvermittelt. »An diesen Gedanken klammere ich mich.«
Eine Pause entstand.
»Woher weißt du das?«
»Ich bin … Ich weiß es einfach. Hätte ich das längere Streichholz gezogen, würde ich auch gewollt haben, dass er glücklich wird. Verstehen Sie?«
42
Wenigstens hatte ich ein Leben gerettet, wie ich jetzt wusste. Mit einer Träne Gottes. Der Tod Max de Rondes hatte eine ganze Reihe von Ereignissen ausgelöst, die zur Rettung eines seiner Söhne führen sollten. Ansonsten hätte auch der zweite Zwilling Max wahrscheinlich nicht überlebt. Das war eine Ironie des Schicksals, mit der ich leben konnte.
Hatte ich mit meinen Auftritten in den Baracken und vor der SS Menschenleben gerettet? Ja, Helenas, vielleicht. Hatte ich die Verzweifelten davon abhalten können, sich in den Stacheldraht zu werfen, wenn auch nur vorübergehend? Anders als der Tod des Flamen ließ sich das nicht beweisen. Ich konnte mich zwar mit dem Gedanken trösten, dass er als Mitglied des Sonderkommandos ohnehin nicht mehr lange gelebt hätte, aber das schmälerte weder meine Schuld noch meine Gewissensbisse.
Helena war tot. Natürlich war sie tot. Sie war bei einem der Transporte umgekommen oder in einem Frauenlager in Deutschland. Manchmal fraß sich diese Erkenntnis wie Säure durch meine Gedanken. Aber weil man so nicht leben kann, klammerte ich mich stur an wenig Wahrscheinliches: Sie war bei einem der Transporte mitgefahren, im April befreit und dann krank geworden. Sie hatte sich erholt und war dann nach langer Wartezeit in einen Zug nach Holland gesetzt worden. Vielleicht war sie erst seit einer Woche wieder zu Hause und hatte die Geduld aufgebracht, auf diesen be sonderen Abend zu warten. Bei dem sie die einzige Zuschaue rin war, auf die es ankam.
Ich hatte mir die Listen des Roten Kreuzes angesehen. Ich selbst stand auch darauf, mit der Adresse meiner Pension. Mindestens ein Mal pro Woche hatte ich mich gemeldet, um mit dem Finger über die Namen der Überlebenden zu fahren. Nirgendwo hatte ich den Namen Helena Weiss oder Helena de Wit entdeckt. Es war so, als sei sie – wie schon im Waggon vermutet – all die Monate nur eine Fata Morgana gewesen.
Der Einzige, von dem ich ein Lebenszeichen erhalten hatte, war der Lagerkommandant. Es traf in Gestalt eines Briefs ein, der bereits lange auf mich gewartet hatte. Es handelte sich um ein offizielles Gesuch des Obersten Gerichtshofs von Warschau. Er trug den Tagesstempel des 11. Augusts 1945. Darin bat man Herrn Ernst Hoffmann aus Amsterdam, gebo ren am 22. November 1907, von Beruf Komiker, am 16. Ok tober 1945 als Zeuge im Prozess gegen Kurt Wilhelm Müller, geboren am 5. Juni 1906 in München, von Beruf Soldat, auszusagen. Ein Sondertribunal beschuldigte ihn in seiner Funktion als SS -Obersturmbannführer und Lagerkommandant des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ich hatte den Brief beiseitegelegt. Ohne Helena keine Zeugenaussage. Wäre ich sonst im Gerichtssaal erschienen? Ja. Das war der Deutsche in mir. Das hatte ich nun mal bei der Ehre meines Vaters geschworen. Aber wer weiß, ob meine Aussage die Todesstrafe verhindert hätte. Ende November las ich in der Zeitung, dass Kurt W. Müller in allen Anklagepunkten für schuldig befunden worden war. Am 17. Dezember 1945 wurde er gehenkt.
Ich hatte noch eine andere Vermutung: Wenn Helena von
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