Das Laecheln Deines Moerders
und hatte alles, was tröstlich und herzlich war, mit sich genommen – nein,
gestohlen! Verdammt sollst du sein,
Mel, dachte er, als der Zorn seine Sehnsucht wegspülte.
Steven straffte sich so unerwartet, dass Dr. Marshall überrascht aufschaute.
»Bin ich Ihnen auf den Fuß getreten?«, fragte sie. Er konnte sehen, dass sie Schmerzen hatte. Sie lächelte jetzt zwar, doch es kostete sie Mühe.
Er schüttelte den Kopf.
Sie sah ihn noch eine Weile fragend an, doch dann schien ihr klar zu werden, dass er keine weitere Erklärung geben würde. Als sie den Kopf wieder senkte, fiel ihr das Haar ins Gesicht, und sie schob es hinters Ohr. Er roch Kokosnuss. Ihr Haar roch nach Kokosnuss. Strand und Sonnenmilch. Und Bikinis.
Gott.
Sie roch gut. Er wollte ihren Duft genauso wenig wahrnehmen wie die Rundung ihres Kinns oder die gerade Nase. Oder ihre vollen Lippen. Oder die Beine, die ganz bis zum Hals reichten. Er hätte am liebsten nichts von ihr wahrgenommen, aber er konnte sie unmöglich ignorieren. Er holte tief Luft, bevor er die Zähne zusammenbiss.
Das Letzte, was er momentan gebrauchen konnte, war eine Frau, die ihn von den wesentlichen Dingen in seinem Leben ablenkte. Normalerweise war er Fachmann darin, Frauen zu ignorieren, die ihn abzulenken drohten – sehr zum Kummer seiner Tante Helen. Doch heute kam es ihm besonders hart vor. Heute fühlte er sich … verwundbar. Er verzog das Gesicht. Das Wort nur zu denken hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Aber es war eben so, sei es, weil er kurz zuvor bei den Eltern von Samantha Eggleston gewesen war, sei es, weil die Welt seines Sohnes einzustürzen drohte und es offenbar nichts gab, was er dagegen tun konnte.
Dr. Marshall blieb stehen, als er die Eingangstür der Schule für sie öffnete. Ihre Hand drückte seinen Arm leicht.
»Es wird alles wieder in Ordnung kommen, Mr. Thatcher«, sagte sie leise. »Sie müssen darauf vertrauen.«
Er musste darauf vertrauen. Und beinahe tat er es. Wünschte beinahe, jemanden wie sie an seiner Seite zu haben, die ihm jeden Tag aufs Neue Mut machen konnte.
Er nickte. »Und Sie sind sicher, dass Sie mit dem Wagen nach Hause kommen?«
Sie blickte zu ihm auf und legte prüfend den Kopf auf die Seite, und er fühlte sich plötzlich nackt, bloßgestellt, als könnte sie seine ärgsten Ängste spüren. Er erwartete noch einen aufbauenden Spruch von ihr, doch stattdessen beantwortete sie einfach nur die Frage, die er ihr gestellt hatte. »Ja. Wie ich schon sagte – mein rechter Fuß ist völlig okay, und ich fahre Automatik. Das geht schon.«
»Wenn Sie mir Ihre Schlüssel überlassen, hole ich Ihnen den Wagen her.«
Er sah zu, wie sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel suchte. »Ein roter Jaguar.«
Er blinzelte. »Sie fahren Jaguar? Mit einem Lehrergehalt?«
»Ich habe ihn geerbt.« Sie zeigte auf eine Stelle ganz hinten auf dem Parkplatz. »Da drüben.«
Er nahm ihr die Schlüssel aus der Hand und half ihr die Treppe hinunter. Unten ließ sie seinen Arm los und hielt sich am Geländer fest. Er fühlte sich, als hätte man ihm etwas geraubt. Und das Gefühl passte ihm nicht.
Ablenkung. Das war Brads Dr. Marshall ganz gewiss. Brad musste unbedingt zusehen, dass er die Kurve kriegte, und zwar nicht nur um seiner selbst, sondern auch um seines Vaters willen; nur so war garantiert, dass Steven sich nicht mehr mit dieser unglaublich attraktiven Lehrerin treffen musste.
Freitag, 30. September, 16.45 Uhr
B rad Thatcher saß auf der Bettkante und stützte den Kopf in beide Hände. Er war durch den Chemietest gefallen. Er wusste es, obwohl er nicht abgewartet hatte, bis die Arbeiten durchgesehen worden waren. Ein Blick auf Dr. Marshalls Gesicht hatte ihm genug verraten. Er hasste es, sie nach allem, was sie für ihn getan hatte, zu enttäuschen. Er dachte an den letzten Test, den sie ihm verdeckt auf den Tisch gelegt hatte. Er hatte insgeheim immer die Schüler bedauert, die ihre Arbeiten in ihre Taschen schoben, ohne sie anzusehen, weil sie ohnehin wussten, dass sie sie vermasselt hatten. Weil sie Versager waren.
Wie ich,
dachte er. »Gott, bin ich ein Loser«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das unrasierte Gesicht. Die Stoppeln piekten auf seiner Haut. Nach diesem ersten D – dem ersten D in seiner gesamten schulischen Laufbahn – hatte Dr. Marshall ihn gebeten, nach Ende der Stunde noch zu bleiben. Sie hatte ihn gefragt, was los sei und ob sie ihm helfen könne. Sie hatte ihn
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