Das Laecheln der Chimaere
loszuheulen.
»Nicht weinen, der kommt wieder«, sagte Egle laut. Das alles kannte sie aus eigener Erfahrung nur allzu gut. Eigentlich waren sie beide, dieses Mädchen und sie, Schwestern im Unglück. »Ein Paar Stiefel«, wie die Russen sagten.
Katja hatte zwar gehofft, dass irgendeine Reaktion erfolgen würde, zuckte nun aber doch zusammen: Du lieber Gott, es funktioniert! Und sie hatte schon Angst gehabt, Bindjushny und sie könnten mit ihrer »Szene« zu dick aufgetragen haben. Bindjushnys Stimme hatte sich angehört wie eine besoffene Trompete. Und auch sie hatte es – wenn auch mit einiger Mühe – geschafft, den munter aufspielenden Saxofonisten auf der Bühne zu übertönen. Sie hatten gerade erst eine Viertelstunde hier gesessen, da hatte Bindjushny ihr ein Zeichen gegeben – legen wir los mit unserer Komödie, solange unsere Verdächtige noch nicht zu betrunken ist. Aber in eben diesem Augenblick setzte der Saxofonist zu dem Foxtrott aus der Fernsehserie »Jeeves and Wooster« an. Als Katja ihre Beleidigungen herauskreischte, verfiel sie unwillkürlich in den Rhythmus dieses verflixten Liedes und erschrak nicht schlecht bei dem Gedanken, dass alles verlogen und unnatürlich wirken könne. Und dass Egle Taurage gleich wie der große Stanislawski rufen würde: »Ich glaube es nicht!«
Aber es funktionierte. Egle sprach sie von sich aus an, wollte sie trösten und aufrichten. Also musste sie die Komödie weiterspielen und durfte sich keine Blöße geben.
Melodramatisch schluchzte sie auf: »Dieser unselige Idiot hat mich in dieses Loch geschleift! Weißt du«, sie schaute Egle vertrauensvoll an, »wir wollten eigentlich zur Puschkinskaja, in die › Garage ‹ , zum Tanzen. Aber er gibt ja keine Ruhe, ehe er nicht alle Kneipen abgegrast und sich bis zur Bewusstlosigkeit besoffen hat. Lässt mich glatt hier sitzen! Und ich . . . hier, sieh mal«, Katja zeigte ihre in Abendschuhen aus Wildleder steckenden Füße, »ich habe die Stiefel im Auto gelassen. Und das Geld reicht nicht mal fürs Taxi. Schwein!« Erbittert schüttelte sie ihre Handtasche und kippte Schlüssel, Kosmetiktäschchen und ein paar zerknitterte Zehnrubelscheine auf den Tisch.
»Nur ruhig, ärgere dich nicht.« Egle setzte sich auf den Stuhl gegenüber Katja, die Beine versagten ihr plötzlich den Dienst. »Es gibt Schlimmeres. Wer ist er? Dein Mann?«
Katja dachte unwillkürlich: Diese Egle Taurage ist nicht nur sehr schön, sondern auch gutherzig – so lebhaft auf den Kummer einer ihr völlig unbekannten Frau zu reagieren.
»Wir leben zusammen«, antwortete Katja und schluchzte wieder auf. »Wie oft wollte ich ihn schon verlassen, dachte, jetzt reicht es, Schluss! Aber dann taucht er wieder auf, wirft sich auf die Knie, bittet um Verzeihung. Es ist einfach zum Verzweifeln! Verlassen kann ich ihn nicht, ertragen auch nicht. Und was machst du hier so allein? Hast du dich auch mit deinem Typ verkracht?«
»Den hat man eingebuchtet. Heute war ich bei der Miliz, sie lassen ihn nicht raus.«
»Eingebuchtet? Weshalb denn?«, fragte Katja flüsternd. »Drogen?«
»Mein älterer Bruder ist ermordet worden. Vor zwei Tagen.« Egle fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht und wischte die Tränen, die ihr in die Augen traten, fort. »Und ihm will man den Mord in die Schuhe schieben. Aber er war es nicht, er hätte Vitas nicht töten können. Er ist unschuldig.«
Katja scharrte die zerknüllten Rubelscheine zusammen (sie hatten sie in Kolossows Auto aus allen ihren Portemonnaies herausgesucht – Kolossow hatte erklärt, das sei notwendig, des Kolorits wegen), nickte dem Barkeeper zu, und der brachte ihnen noch je ein Glas Gin und nahm das Geld an sich.
»Trink«, sagte sie. »Wie heißt du?«
»Egle.« Die Zähne des Mädchens stießen klirrend an den Rand des Glases.
»Erzähl mal der Reihe nach. Ich verstehe nicht, wieso glauben die Bullen, dein Freund könnte deinen Bruder ermordet haben?«
»Vitas hat ihn gehasst.« Wieder wischte sich Egle mit einer jähen Bewegung die Tränen weg. »Vitas war mein Bruder. Mit meinem Freund . . . meinem Mann bin ich seit zwei Jahren zusammen. Klar, wir haben uns gestritten, so wie ihr, so wie alle es tun. Deiner trinkt, meiner spielt. Karten, Roulette. Und ständig hat er Schulden. Manchmal nimmt er auch mein Geld und verspielt es bis zur letzten Kopeke. Er hat kein Glück. Er ist hitzig und leichtsinnig. Meinem Bruder hat das irgendwann gereicht, er ist furchtbar wütend geworden und hat mich
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