Das Laecheln der Chimaere
ich es Ihnen angekündigt hatte«, sagte Kolossow. »Aber dieser Mitschnitt ist inoffiziell und hat keine Beweiskraft. Ich lasse jetzt den Untersuchungsführer holen. Werden Sie die Beschuldigungen gegen Ihren Sohn Philipp, er sei der Mörder von Teterin und Vitas und Egle Taurage, im Verhör bestätigen?«
Im anderen Zimmer lauschte Katja gespannt auf jedes Wort. Sie hörte Saljutow antworten: »Nein.«
Dann fügte er noch hinzu: »Das kann ich nicht.«
Wieder Schritte. Nikita sagte nichts, drängte ihn nicht. Er öffnete nur die Tür und rief die Wachsoldaten. Katja wollte schon die Kopfhörer abnehmen, aber einer der Techniker schüttelte den Kopf: Warte noch. Er drückte auf irgendwelche Knöpfe an seinen Apparaten. Im Kopfhörer ertönte wieder Kolossows Stimme: »Du bist von selbst zu uns gekommen, Philipp. Nicht wir haben dich geholt. Vielleicht hast du nicht daran gedacht, was du riskierst. Vielleicht war dir aber auch schon alles egal, und du wolltest nur noch, dass alles ein Ende hat. . . Gleich wird der Untersuchungsführer eintreffen. Hier hast du Papier. Schreib die Wahrheit über die drei Morde auf – über Teterin, Taurage und seine Schwester. Gib den Ort an, wo du die Pistole und den Schalldämpfer versteckt hast. Schreib alles auf, die ganze Wahrheit.«
»Nein«, antwortete Philipp. »Nein!« Seine Stimme klang jetzt ganz wie die seines Vaters.
»Ja«, sagte Nikita, »ja, Philipp. Hier ist Papier und ein Stift. Anders kommst du hier nicht mehr raus. Das lasse ich einfach nicht zu.«
Katja wartete. Lange. Schließlich vernahm sie unterdrücktes Schluchzen.
Sie nahm die Kopfhörer ab und verließ den Raum. Im Flur hatten sich fast alle Mitarbeiter der Mordkommission versammelt. Sie rauchten und warteten. Jemand bot Katja eine Zigarette an, aber sie lehnte ab. Die Zeit verging. Schließlich kam Kolossow mit mehreren beschriebenen Blättern in der Hand aus dem Büro am Ende des Flurs, und sofort betraten die Wachsoldaten wieder das Zimmer.
Nachdem Katja das Präsidium verlassen hatte, ging sie durch die Nikitski-Gasse auf die hell erleuchtete Twerskaja zu. In dem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelgeschäft an der Ecke ging sie in die Abteilung für Backwaren. Im Geist zählte sie dabei das Geld nach, das sie noch im Portemonnaie haben musste, und suchte sich dann aus der Vitrine eine luftige, mit Sahnecreme verzierte Torte aus. Nachdem sie die Schachtel von der Verkäuferin entgegengenommen hatte, rief sie vom Handy aus Krawtschenko an, sagte, sie sei schon auf dem Weg nach Hause, und bat ihn, unterwegs noch irgendwo eine Flasche Sekt zu kaufen. Morgen war Samstag. Und wenn der Charterflug nicht schon wieder verschoben wurde, würde morgen der Weltenbummler Sergej Meschtscherski zurückkehren, von den Gipfeln seines Himalaya in ihr bescheidenes Tal hinuntersteigen.
Mit der Torte unterm Arm ging Katja zur Metro. Trotz der eisigen Kälte und der späten Stunde waren die Straßen noch voller Menschen. Soweit man schauen konnte, strahlten überall gleißende Leuchtreklamen. Die abendliche Stadt ähnelte immer noch einem geschmückten Weihnachtsbaum. Aber je weiter man sich vom Zentrum entfernte, desto dunkler und ruhiger wurde es.
Im Kiefernwäldchen am Stadtrand war es ungewöhnlich dunkel und still. Kein einziges Fenster in dem Haus mit dem Ziegelsteindach am Ende der Allee war erleuchtet. Auch die Allee selbst war leer und dunkel. Keine lange Reihe teurer ausländischer Wagen stand zu dieser späten Stunde hier, wie sonst.
Aber plötzlich flammten wie von einem Zauberstab berührt auf dem Parkplatz des Kasinos zwei Scheinwerfer auf. Die Beleuchtung funktionierte automatisch, ohne dass jemand sie einschalten musste. Einen Moment später funkelte auch das gigantische Neontableau an der Fassade auf. Die Autofahrer auf der Chaussee sahen wieder das gewohnte Leuchtfeuer: ein Neonfeld aus blühendem Mohn, das zu einer riesigen Blüte zusammenfloss, mit Blütenblättern, die an die Windmühlenflügel des »Moulin Rouge« erinnerten oder an ein gigantisches Zifferblatt ohne Zeiger. Dann fielen die Blütenblätter ab und verwandelten sich in ein fächerförmig herunterflatterndes Kartenspiel: Herzkönig, Herzbube, Karobube, Herzdame, As . . .
Von weitem, von der Straße aus, sah man das Bild auf der Werbetafel klar und deutlich, aber je mehr man sich dem Kasino näherte, desto verschwommener wurden die Umrisse der Blumen und Karten. Nur die Neonlichter blendeten und pulsierten in der Nacht, als
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