Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
es hell wird, ist es ja gut. Wenn ich in Belladonnas Haus schlafen müsste, würde ich jedenfalls zusehen, dass meine Tür abgeschlossen ist.»
36 Die Legende
Es roch alt: Das bemerkte man als Erstes, denn man sah nicht viel, ehe man ins Haus kam. Durch die Bäume rundumher wirkte alles noch dunkler und enger, und so nahe am Wasser hing überall Nachtnebel. Drinnen empfing einen der staubig-süße Geruch von Holzrauch und warmen Steinen wie der Trost, den eine kleine Kirche spendete.
Selbst nachdem Bell Licht gemacht hatte, wurde es nicht richtig hell. Sie standen in einer Eingangshalle mit niedriger Decke. Die Balken waren, wie Merrily bemerkte, nur grob behauen, sogar teilweise noch mit Rinde bedeckt. An den ockerfarbenen Wänden brannten zwei Laternen – elektrisch, aber die Glühbirnen waren nicht größer als Streichholzflammen, weshalb das Zimmer nicht heller erleuchtet war, als es im Mittelalter mit Kerzen oder Binsenlichtern der Fall gewesen sein dürfte.
Das Telefon stand in einer Wandnische, die wirkte, als müsste dort ein Hostienschränkchen stehen. Offensichtlich sollte das den Anachronismus verbergen, und Bell zog den kurzen Vorhang wieder davor.
«Ihre Tochter war also noch wach?»
Das lehmfarbene Licht verlieh Bell Pepper einen leichten Heiligenschein. Sie hatte sich die blonden Haare gebürstet und das Gesicht gewaschen. Es wirkte bleich und aufgedunsen, wie zerknittertes Leinen, und sie hatte Schatten unter den Augen, aber kein Blut – abgesehen von den Flecken auf dem Leichenhemd.
«Sie hat darauf gewartet, dass ich mich melde», sagte Merrily. «Jetzt geht sie ins Bett.»
«Mein Sohn war eine Totgeburt», sagte Bell ohne Umschweife. «Er ist in mir drin gestorben.»
Es klang streitlustig. Typisch für berühmte Künstler: Sie verlangten den Schutz ihrer Privatsphäre, verfluchten die aufdringlichen Medien, aber es war doch wichtig, dass den Leuten bewusst war, wie viel dramatischer und bedeutsamer ihr Leben verlief.
«Ich habe in der Schwangerschaft viel geträumt», sagte Bell mit weicherer Stimme. «Sehr klare Träume, in denen ich durch die Straßen einer ganz alten Stadt gegangen bin, und ich hatte keinen Körper. Ich war ganz leicht.»
Merrily sagte nichts. Hormone. In der Schwangerschaft waren so viele chemische Prozesse im Gange.
«Und dann hatte ich einmal einen besonders lebensechten Traum, Mary, und in diesem Traum spürte ich jemanden an meiner Seite, und da war ich auf einmal ganz sicher, dass mein Baby in mir gestorben war.»
«Ja … das verstehe ich.»
«Aber meine Gefühle waren ganz anders, als Sie es erwarten würden.» Bell lächelte. «Es war keine Trauer, eher so eine Art … Kommen Sie, trinken Sie doch ein Glas Wein, Mary.»
«Es ist ein bisschen –»
Aber Bell war schon durch einen niedrigen Spitzbogen im gotischen Stil verschwunden, und Merrily folgte ihr achselzuckend in einen schmalen und unbeleuchteten Durchgang. Sie spürte das Lächeln dieser Frau, das ihnen voranging wie eine Leuchte, wie etwas Eigenständiges.
«Es war eher eine Art Ehrfurcht», sagte Bell, «weil ich den Tod in mir trug. Ich war sein Gefäß. Dieser Tod hatte in meinem Körper stattgefunden. Von dem Moment an wusste ich, dass ich den Tod immer bei mir haben würde. Und dass der Tod wie die Liebe ist … er muss genährt werden.»
Sie drehte sich am Ende des Durchgangs um und blickte Merrily an. Selbst in der Dunkelheit konnte Merrily sehen, dass Bells Augen leuchteten.
«Aber, wissen Sie, Mary, in der Liebe war ich nie besonders gut.»
Merrily blieb stehen. Langsam verstand sie, was sich hinter den Ritualen dieser Frau verbarg: hinter den Kerzen, die sie an alten heiligen Stätten anzündete, dem Menstruationsblut in der Kirche … dem Leichenhemd, das sie anzog, um von der Eibe vor ihrem Haus über den spirituellen Gipfel der Stadt bis zu der Eibe auf dem verwilderten Friedhof St. Leonard zu gehen, der summte und knisterte vor Energie.
«Der Tod ist das ewige Leben ohne Leiden», flüsterte Merrily. «Wir schaffen unsere eigene Ewigkeit.»
Es herrschte einen Augenblick lang Stille, bis auf die leisen Geräusche eines heruntergebrannten Kaminfeuers in dem Raum hinter Belladonna, in dem es rot und orange schimmerte.
«Das
kennen
Sie», sagte Bell fast ehrfürchtig.
Zuvor waren sie den Linney heruntergegangen und ein paar Stufen herabgestiegen.
Einmal hatte ein Bewegungsmelder reagiert, und in dem baumreichen Garten eines modernen Bungalows war eine
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