Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
nachgemachte viktorianische Gaslampe angegangen. Bell Pepper war stehen geblieben und hatte sich umgedreht, den Instrumentenkoffer in der Hand. Ihr Leichenhemd hatte einen hohen, gekräuselten Kragen, und es reichte ihr fast bis zu den Füßen, die in Sandalen steckten. Einen Augenblick lang schien sie in der Zeit zu flackern, und da hatte Merrily die erste Ahnung gehabt.
Bald hatten die Gebäude nicht mehr so dicht gestanden, aus Stadthäusern waren Bauernhäuser geworden, aus Mauern hohe Hecken. Der Bürgersteig war schmal, weshalb Bell ein Stück vor Merrily ging, das blasse Leichenhemd flatternd wie ein Taschentuch.
Die Auffahrt zum Wehrhaus war von einem hohen Eisentor mit steinernen Torpfosten verschlossen. Aber ein kleineres Tor daneben war offen, und Bell hatte Merrily auf einen Weg geleitet, der nicht zum Haus, sondern zu einer Eibe und um sie herum führte. Die Eibe war so breit wie einer von Gomer Parrys Baggern und von unten grün und golden angeleuchtet.
Bell war hineingegangen.
Es war nicht ungewöhnlich, dass diese Bäume hohl waren und dennoch überlebten; in Much Marcle gab es eine Eibe, in der sogar ein Stuhl stand. Merrily war zurückgeblieben, sie hatte nicht mit Belladonna zusammen in dem Baum sein wollen. Als Bell kurz darauf wieder erschien, verbeugte sie sich vor dem Baum und ging ohne jede Erklärung davon.
Aber sie hatte den Instrumentenkoffer nicht mehr bei sich, nur einen langen Schlüssel.
«Das war ein ganz schöner Schock.» Bell lachte nervös, ein Glas Rotwein an den Lippen. «Einen Moment lang dachte ich – aber wahrscheinlich hat Jonathan Ihnen das erzählt. Er war ja hier, als wir geprobt haben. Diese eine Zeile – ‹Wir schaffen unsere eigene Ewigkeit› – kommt auf dem Album vor, das ich mit Le Fanu mache. Aber wir haben es noch gar nicht eingespielt. Jonathan wollte unbedingt einmal zuhören, also habe ich es ihm ausnahmsweise erlaubt. Der kleine Mistkerl, wahrscheinlich hat er sich Notizen gemacht.»
«Davon weiß ich nichts», sagte Merrily. «Jonathan hat mir nichts davon erzählt.»
Bells Gesicht schien im Widerschein des Feuers zu glühen. Sie sagte unsicher: «Aber es gibt keine andere Möglichkeit, woher sollen Sie es denn sonst –»
«Doch, es gibt leider noch eine andere Möglichkeit», sagte Merrily.
«Jonathan hat ja gesagt, Sie sind das beste Medium, dem er je begegnet ist. Ich wollte ihm nicht glauben. Jonathan ist … wie soll ich es sagen …?»
«Er neigt zu Übertreibungen.» Merrily setzte sich aufrecht hin. «Mrs. Pepper, ich habe es im Internet gelesen.»
«Ich habe überhaupt nichts mit dem Internet zu tun!», fuhr Bell auf. «Computer saugen einem die Energie aus. Das können Sie gar nicht im Internet gelesen haben!»
«Das Zitat war auf einer Website. Oder eher in einem Chatroom.»
«Ich weiß noch nicht mal, was ein verdammter Chatroom ist.»
«So etwas wie ein Diskussionsforum. Dort können sich Menschen Nachrichten zukommen lassen. In diesem Fall Menschen, die sich für Selbstmord interessieren.»
«Was?»
«Dort treffen sich potenzielle Selbstmörder, um sich online über das Thema auszutauschen. Die Zeile wurde in einer Antwort an ein Mädchen zitiert, das vorhatte, sich umzubringen. Ich kann nicht sagen, woher die den Text haben, aber das Internet ist praktisch genauso schnell wie die Gedanken. Und diese Gedanken werden mit Tausenden geteilt.»
Merrily sah sich im Halbdunkel um. Sie hätten genauso gut im Freien vor einem Grill sitzen können. Als Probenraum war das hier ja sicher sehr atmosphärisch, aber als Wohnraum war es trotz der dicken Wandteppiche und der Schaffelle auf dem Boden zu groß, zu kalt, zu rudimentär. Zu mittelalterlich, zu kompromisslos.
Bell Pepper betrachtete sie aufmerksam über ihr Weinglas hinweg. «Warum haben Sie sich diese Selbstmord-Website angesehen?»
«Ich habe versucht, meinem Bekannten zu helfen, Robbies Onkel. Ich wollte Robbie verstehen und warum er gestorben ist.»
«Sie glauben, er hat sich umgebracht?»
«Sein Onkel hält das für möglich. Was glauben Sie?»
Bell setzte einen nichtssagenden Gesichtsausdruck auf. «Ich weiß nicht.»
«Er scheint von den Jugendlichen in seiner Siedlung schikaniert worden zu sein. Es gibt Hinweise darauf, dass er nicht dorthin zurückwollte. Dass er sich vielleicht das Leben genommen hat, um … hierbleiben zu können.»
«Nein, das stimmt nicht.»
«Wir haben uns seinen Computer angesehen, und er –»
«Nein! Hören Sie … Ich
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