Das Lächeln des Cicero
Ordnung ist Ordnung, und es gibt
nichts, was die Römer höher schätzen. Doch ich nehme
an, Cicero sieht das anders?«
Tiro sagte nichts. Die
enge Gasse wand sich nach rechts und links, so daß man nie
mehr als ein paar Meter weit sehen konnte. Hin und wieder kamen wir
an einer Tür oder einem Fenster vorbei, die ein Stück in
die Mauer eingelassen und ausnahmslos geschlossen waren. Wir
hätten kaum ungestörter sein können.
»Natürlich
ist Sulla ein Diktator«, sagte ich. »Das beunruhigt den
römischen Geist. Wir sind alle freie Bürger - zumindest
diejenigen von uns, die keine Sklaven sind. Aber schließlich
ist ein Diktator kein König, versichern uns jedenfalls die
Gesetzgeber. Eine Diktatur ist völlig legal, solange der Senat
seine Zustimmung erteilt. Und natürlich nur im Fall eines
Notstands. Zeitlich begrenzt. Wenn Sulla seine Vollmachten jetzt
schon drei Jahre ausübt, anstatt der gesetzlich
vorgeschriebenen zwölf Monate - na, dann ist es vielleicht
das, was deinen Herrn stört. Daß es nicht korrekt
ist.«
»Bitte«,
flüsterte Tiro angespannt. »Du solltest nicht weiter
davon reden. Man weiß nie, wer
mithört.«
»Ah, die Mauern
selbst haben Ohren - noch so eine Weisheit von Meister Kichererbses
vorsichtigen Lippen?«
Das brachte ihn
schließlich doch in Wallung. »Nein! Cicero sagt immer,
was er denkt - er hat genausowenig Angst, offen seine Meinung zu
äußern, wie du. Und er weiß sehr viel mehr
über Politik, als du ihm zuzutrauen scheinst. Aber er ist
nicht tollkühn. Cicero sagt: Wenn ein Mann nicht
äußerst versiert in der Kunst der Rhetorik ist,
können seine öffentlich geäußerten Worte so
rasch seiner Kontrolle entfliehen wie Blätter im Wind. Eine
unschuldige Wahrheit kann zu einer fatalen Lüge verdreht
werden. Deswegen hat er mir verboten, außerhalb seines Hauses
über Politik zu reden. Oder mit nicht vertrauenswürdigen
Fremden.«
Jetzt hatte er es mir
gegeben. Sowohl sein Schweigen wie auch sein Zorn waren berechtigt.
Ich hatte ihn absichtlich geködert. Aber ich entschuldigte
mich nicht, nicht einmal in der weitschweifigen und steifen Art, in
der sich Freigeborene manchmal bei ihren Sklaven entschuldigen.
Alles, was zu einem genaueren Bild von Cicero beitrug, bevor ich
ihn persönlich traf, war den geringfügigen Preis wert,
seinen Sklaven zu beleidigen. Außerdem sollte man einen
Sklaven sehr gut kennen, bevor man ihn wissen läßt,
daß einem seine Frechheit gefällt.
Wir gingen weiter. Die
enge Gasse verbreiterte sich gerade so weit, daß zwei
Personen nebeneinander gehen konnten. Tiro holte ein wenig auf,
hielt sich jedoch nach wie vor ein Stückchen links hinter mir,
um einen formellen Abstand zu wahren. In der Nähe des Forums
stießen wir wieder auf die Via Subura. Tiro sagte, es sei
kürzer, direkt über das Forum zu gehen, anstatt einen
Bogen darum zu machen. Also durchquerten wir das Herz der Stadt,
das Rom der Touristen mit seinen großzügig angelegten
Höfen und Brunnen, Tempeln und Plätzen, wo die Gesetze
gemacht und die bedeutendsten Götter in ihren prächtigen
Häusern verehrt wurden.
Wir kamen auch an der
Rostra selbst vorbei, einem hohen, mit den Schnäbeln
erbeuteter Schiffe verzierten Sockel, von dem aus die Redner und
Advokaten bei den wichtigsten Streitfällen der römischen
Justiz ihre Plädoyers hielten. Wir erwähnten den Diktator
Sulla mit keinem weiteren Wort, aber ich fragte mich
unwillkürlich, ob Tiro, genau wie ich, an den Anblick dachte,
der sich nur ein Jahr zuvor an genau dieser Stelle geboten hatte,
als die abgeschlagenen und auf Stöcke gespießten
Köpfe von Sullas Feinden täglich zu Hunderten das Forum
gesäumt hatten. Das Blut seiner Opfer war noch immer in Form
rostfarbener Flecken auf dem ansonsten makellos weißen Stein
zu sehen.
3
Ciceros Haus war, wie
Tiro gesagt hatte, um einiges kleiner als meines. Von außen
wirkte es fast demonstrativ bescheiden und gesetzt, ein
einstöckiges Gebäude ohne eine einzige Verzierung. Die
Fassade zur Straße war völlig nackt, nichts weiter als
eine gelblich verputzte Mauer mit einer schmalen
Holztür.
Die offenkundige
Bescheidenheit von Ciceros Haus bedeutete nicht viel. Denn
natürlich befanden wir uns in einer der teuersten Wohngegenden
Roms, wo das Ausmaß eines Anwesens wenig über den
Wohlstand seines Besitzers aussagt. Hier konnte selbst das kleinste
Haus genausoviel kosten wie ein ganzer Straßenzug von Villen
in der Subura. Außerdem vermeiden die wohlhabenden
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