Das Lächeln des Leguans
mich durchflutet ein euphorisches Gefühl. Als stünden großartige Dinge bevor, als würde sich im
nächsten Augenblick eine Leere füllen. Früher hätte ich über all das bloß gelacht und Luc für verrückt erklärt, doch die Ereignisse
der zurückliegenden Monate haben mir gezeigt, was alles möglich ist …
*
Meine Enzyklopädie verschweigt das Wesentliche: Dort steht nichts darüber, wie man den Leguan von den Galapagosinseln einschaltet.
Ich muss mich also an Luc halten. Ich versuche, ihn so gut es geht zu imitieren. Wie er lege ich Kiesel auf den Altar und
knie dann in betender Haltung auf einer Matte aus Seetang nieder. Denn es geht doch immer wieder um dasselbe; wie der da oben
funktioniert auch die Eidechse nur über Gebete. Daran führt kein Weg vorbei.
Ich lasse den Leguan auf mich wirken. Ich versuche, die Bedeutung seines Lächelns zu entschlüsseln, dabei scheint es sich
je nach Lichteinfall zu verändern; mir ist so, als hätte ich bald einen schelmischen Gnom, bald einenvom Alter gebeugten Greis vor mir. Ich erlebe auch seltsame Visionen, Trugbilder. Heute Morgen war mir so, als legten sich
auf das zerknitterte Gesicht des Leguans die Züge meines Vaters, was ich mir allerdings gewiss nur eingebildet habe. Ich knie
auf meinem kleinen Teppich aus getrockneten Algen, betrachte die Echse, konzentriere mich und warte gespannt darauf, dass
irgendetwas geschieht. Es fiele mir leichter, wäre da nicht der Kolibri, dieser unsichtbare Vogel, der jedes Mal auftaucht
und sich über meine Naivität lustig macht. Nach einer Weile komme ich mir lächerlich vor und halte es nicht länger aus: Ich
muss einfach rausgehen und mich mit etwas Konkretem, weniger Nutzlosem befassen, wie etwa dem Zählen von Sandkörnern. In technischer
Hinsicht kann Luc mir keinen Rat geben, denn das Kommunizieren mit dem Leguan ist für ihn etwas rein Instinktives. Er musste
es nie lernen. Er taucht ein wie in eine herrlich einladende tropische Lagune, und alles geht wie von selbst. Ich muss also
ohne Hilfe auskommen und ganz allein die Gebrauchsanweisung, die Zauberformel, das geeignete Gebet finden. Ich bin auf der
Suche, probiere die unterschiedlichsten Dinge aus. Ich recycle alte Litaneien:
Unser Leguan, der du bist so hässlich,
Dein Wille geschehe in meinem Kopf wie im Himmel,
Deine Träume kommen …
*
Fngls Mutter ist eine Sirene, die ein menschlicher Fischer eines Tages in seinen Netzen gefangen und zu einer widernatürlichen
Umarmung genötigt hat. Fngl wurde als Spross dieser erzwungenen Vereinigung wie eine Meeresschildkröte am Ufer geboren und
hat unter den »Schweren« eine trostlose Kindheit verbracht. Während er heranwuchs, hat sich jedoch das biologische Erbe seiner
»leichten« Herkunft immer stärker durchgesetzt: Eine Metamorphose hat stattgefunden, die Entdeckung seiner aquatischen Fähigkeiten,
das Begreifen seines eigentlichen Wesens und dann schließlich, mit zwölf Jahren, die Rückkehr ins Meer. Seit dieser zweiten
Geburt durchstreift Fngl unermüdlich die Tiefen der Ozeane auf der Suche nach der, die ihn unter ihrem Herzen getragen hat.
Als er von der Existenz einer Stadt in den Fluten namens Ftan hörte, in der angeblich das Volk der Sirenen lebt, hat er sich
aufgemacht und ungestüm die Meere erkundet, allerdings ist die Suche nach der sagenumwobenen »Stadt der Ranken« eine Herausforderung,
da sie sich nicht an einem festen Punkt im Ozean befindet. Die Stadt in der Tiefe bewegt sich, treibt mit der Strömung und
wechselt ständig ihren Standort. Noch nie hat Fngl ihre Seegrasspur entdeckt. Jede Nacht bedeutet es für ihn eine neue Herausforderung,
sie aufzuspüren, doch lässt er sich nicht entmutigen; während er den Meeresungeheuern die Stirn bietet, aber auch betörende
Schönheiten zu sehen bekommt und versunkene Schätze entdeckt, setzt er seine Suche immer weiter fort.
So erzählt Luc, während das Feuer vor sich hin prasselt. Und ich lausche ihm gebannt, verzaubert von der Kraft seiner Fantasie,
aber auch fasziniert von dem, was er nicht ausspricht: der offenkundigen Übereinstimmung von Erzählung und Wirklichkeit, der
Identität von Fngl und ihm. Wenn Luc von den Abenteuern des jungen Tritons berichtet, geschieht das immer in der ersten Person,
und es klingt so, als spreche er aus eigener Erfahrung, als erzähle er aus seinem eigenen Leben, von seinem ganz persönlichen
Schicksal, als schwanke er
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