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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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winzigen Vampire mit meinem Blut gestillt und jene Felsnase, die über die abertausend Scherben der Brandung
     ragte, überwunden hatte, zur Stirnseite einer den Winden ausgesetzten Felswand gekrochen war und schließlich einen letzten
     mit Guano befleckten Gipfel erklommen hatte, für meine Mühen belohnt. Denn dort unten in der Tiefe tat sich, eingeschlossen
     von Felswänden, eine kleine Bucht auf.
    In die Felsen war ein mit rötlichem Sand durchwirkter Strand eingebettet. Er wurde von türkisfarbenem Wasser umspült und war
     durch mächtige Riffe gegen die Fluten geschützt. Nach der Hitze und Kargheit, nach der Schizophrenie der Rottannen schien
     es, als würde die Natur aufatmen, sich endlich eine Ruhepause gönnen. Eine Erholung für das Auge. Ein Stückchen Tropen, das,
     von der Strömung getragen, schließlich hier gestrandet war. Ich brauchte Luc nur zu folgen, um zu diesem Wunder hinabzusteigen
     und barfuß über den weichen Sand der kleinen Bucht zu laufen, ihren Frieden einzuatmen, ihre wilde Schönheit zu genießen.
     An der Gezeitengrenze befand sich ein Steinkreis mit den Überresten eines erloschenen Feuers und daneben ein polierter Baumstamm,
     auf dem man sich niederlassen konnte. Ein lieblicher Wasserfall rieselte die Felswand herab. Die Bucht war ein natürlicher
     Hafen, ein sicheres Versteck im felsigen Herzen dermuskulösen Gigots, der perfekte Zufluchtsort für einen schrägen Typen wie Luc. Er führte mich zum Ende eines granitenen Schlundes,
     der sich zu einer Grotte hin öffnete. Als ich ihr wohlriechendes Halbdunkel betrat, stellte ich fest, dass sie mit einem Teppich
     aus Sand ausgelegt und geräumig war. Überall standen Kerzen, die Luc anzündete. Die Höhle wurde in Licht getaucht und erstrahlte
     in allen Farben, denn an ihrer Decke prangte ein riesiges Fresko, das sich nun in seiner ganzen Pracht offenbarte. Die Unebenheiten
     des Felsens waren mit großflächigen Malereien bedeckt. Sie stammten von Luc. Da schwammen Narwale an der Seite von Steinbeißern;
     Seesterne und Hummer trieben an Polypen und Rochen vorüber. Bald tummelten sich kleine Delfine im Seegras und tanzten über
     leuchtenden Abgründen einen Reigen, bald ritten sirenengleiche Hirten auf Quallen und führten ihre Walherden zu funkelnden
     Weiden aus Plankton, bald rangen Wasserungeheuer in einem Gewirr aus Tentakeln miteinander, und Haie wurden von Kraken verschlungen.
    Die Wände der Grotte waren mit Tang ausgekleidet. Auf dem Boden lag ein mit Möwenfedern prall gefüllter Sack, der vermutlich
     als Schlaflager diente, außerdem stand dort ein niedriger Tisch, ein ehemaliges Wohnzimmermöbel, auf dem verschiedene Pinsel
     und andere Bastelutensilien verteilt waren, wie etwa Muscheln, Panzer, Gräten, sowie diverse Schmuckstücke, Nippsachen oder
     aus diesen Materialien entstandene Masken. Im Hintergrund mündete die Grotte in eine Art Alkoven, in demdas launische Licht einer Osterkerze flackerte, die offenbar ständig brannte. Und direkt daneben kauerte auf einem Altar aus
     flachen Steinen die Bestie.
    Eine echte Bestie mit riesigem Schwanz. Ein krallenbewehrtes Ungeheuer, eine gewaltige, finster aussehende Echse, haargenau
     dieselbe, die Luc immer wieder zeichnete. Diese satanische Schnauze, dieses widerhakenbewehrte Maul und dieser zahnlose Kamm,
     der sich bis zum Schwanzende hinzog. Das Reptil rührte sich nicht. Es verharrte reglos in seinem Kettenhemd, was wohl kaum
     verwunderlich war, da es nicht lebte. Präpariert. Ausgestopft war der Saurier. Sein angedeutetes spöttisches Lächeln schien
     für alle Zeiten erstarrt zu sein. Allein die Murmeln seines Blickes funkelten.
    »Das ist der Leguan«, raunte Luc in mein Ohr. »Er ist ein magisches Tier.«
    Im ersten Augenblick dachte ich, es handle sich um einen Scherz, doch Luc wirkte so feierlich wie ein ganzes Dutzend Päpste
     zusammen. Ich beugte mich vor, um die Echse genauer zu betrachten. Solche Vierbeiner kannte ich aus dem Fernsehen: eine Meerechse
     von den Galapagosinseln. Um sie herum lagen farbige Kiesel wie Opfergaben   …

11
    Lucs Bucht ist wie ein Lobgesang, eine Lösung für die komplexe Gleichung der Elemente. Hier wird die Zeit allein mit der großen
     Wasseruhr gemessen, und die üblichen Gewohnheiten haben keine Gültigkeit. Wenn uns danach zumute ist, legen wir unsere Kleidung
     ab; wir schmücken uns mit Muschelketten, tragen Hauben aus Tang und frönen nach Belieben dem Nichtstun. Wir sammeln die schönsten
     Wellen,

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