Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
so weiß wie Mickys Handschuhe, die im schwarzen Licht herumfuchteln und
     sich dann wie giftige Blumen öffnen? Was soll sich nur von diesen Köpfen aus triefendem Ton halten, die sich glutrot auf den
     nackten Schultern meines Vaters winden? Es ist ein Code, den ich nicht verstehe. Ich weiß nicht, worauf mein Vater hinauswill.
     Ich begreife ihn nicht, und das deprimiert mich. Luc jedoch gibt nicht auf. Er vermutet, dass es für diese Heimsuchungen einen
     Grund geben muss. Er ist fest davon überzeugt, dass meine Visionen einen Sinn haben. Er drängt mich, sie ihm bis ins kleinste
     Detail zu schildern, und analysiert dann alles, wobei er versucht, in dem ganzen Durcheinander einen roten Faden zu erkennen.
     Immer wieder versucht er, in das, was in meinen Augen ein einziges Chaos ist, Ordnung zu bringen.
     
    *
     
    Luc ist zu einem Schluss gekommen. Er hat angeblich begriffen, was mir mein Vater zu verstehen geben möchte: Er will, dass
     ich ihm seinen Kopf zurückbringe.
    Die These ist total schräg, hat aber den Vorteil, dass sie die vorliegenden Fakten in einen schlüssigen Zusammenhang bringt.
     Luc denkt, Papa sei ein Gefangener des Kilometers 54, wo er sich zu Tode langweile und Mama nur deswegen bei sich behalte,
     damit sie ihn über seineEinsamkeit hinwegtröste. Er würde sie bereitwillig hergeben, wenn er selbst, aus diesem Fegefeuer befreit, die den Toten gebührende
     Ruhe genießen könne, was jedoch im Moment nicht möglich sei. Papa könne dem Kilometer nicht entrinnen, weil er nicht vollständig
     sei, weil er keinen Kopf habe. Die Lösung liege somit auf der Hand: Man müsse ihn ihm zurückgeben. Luc meint, darum habe er
     von Anfang an gebeten, so seien all die Visionen und flehenden Gesten zu verstehen. Für ihn gibt es keinen Zweifel: Mein Vater
     wünsche, dass ich ihm helfe, seinen Kopf wiederzufinden. Was auf den ersten Blick unmöglich scheint, da er vom Zug zermalmt
     worden ist. Aber wer weiß schon, ob er tatsächlich zerschmettert worden ist? Ich hielt die Zerstörung des väterlichen Schädels
     deswegen für eine Tatsache, weil man sie mir als solche dargestellt hatte, aber weiß man es genau?
     
    *
     
    Ich unterzog meine Großeltern einem strengen Verhör. Sie reagierten auf meine Fragen ein wenig verstört und erstaunt, beantworteten
     sie aber, so gut sie konnten: Ihres Wissens sei der Kopf meines Vaters tatsächlich zermalmt worden. Zu diesem Schluss seien
     jedenfalls die Ermittlungsbeamten gekommen, da man nicht die geringste Spur von ihm gefunden habe. Dabei kommt mir diese Variante
     bei reiflicher Überlegung eher unwahrscheinlich vor. Es muss schwierig gewesen sein, unter den unwirtlichen arktischen Bedingungen,
     die an jenem Tagam vierundfünfzigsten Kilometer herrschten, eingehende Untersuchungen durchzuführen. Und was, wenn Papas Kopf nicht etwa zertrümmert,
     sondern nur abgetrennt worden ist? Wenn er irgendwohin in den tiefen Schnee geschleudert worden und deswegen der Aufmerksamkeit
     der Ermittlungsbeamten entgangen ist?
     
    *
     
    Mein Vorfahr hatte einst beschlossen, seine Toten außerhalb des Dorfes zu bestatten, und der Friedhof von Ferland befindet
     sich noch immer an dieser Stelle, oben auf dem Hügel. Dort stehen riesige Laubbäume, deren Äste über den Gräbern eine ganze
     Reihe von durchbrochenen Bögen bilden. Als ich diese Kathedrale aus geklöppelter Spitze betrat, stellte ich überrascht fest,
     wie dicht das Gras auf dem Grab meines Vaters inzwischen gewachsen war. Ich erhoffte mir irgendein Zeichen, irgendeine Bestätigung,
     und blickte lange fragend auf die Inschrift, doch sie schwieg hartnäckig. Es sei denn, man deutet das Rascheln der Blätter,
     das Rauschen der Zweige, wenn der Hauch des Ozeans sie streift, und die flüchtigen Schluchzer der Bäume – die ätherischen
     Seufzer des Windes – als Antwort.

16
    Boudine, der Sohn des Notars, hat sich breitschlagen lassen, mir für fünfhundert Pfefferminzbonbons sein Moped zu leihen,
     Benzin extra. Luc hat sich einen Ersatzkanister auf den Rücken geschnallt, und nach einer dreistündigen knatternden Fahrt
     durch die Schneisen des Hinterlands offenbarte sich uns der vierundfünfzigste Kilometer in seinem wahren, leicht radioaktiven
     Licht. Ein Himmel mit lauter kurzatmigen Schäfchenwolken. Eine Postkartenpampa. Endlich sah ich die Szenerie des Dramas mit
     eigenen Augen. Dort also hatte es sich ereignet, zwischen der Eisenbrücke, die über den Fluss führt, und jener lang

Weitere Kostenlose Bücher