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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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beiseitegeschoben, als tauche die Erinnerung
     an den, der sich am Grund aller Dinge befand, plötzlich wie ein weißer Wal an die Oberfläche. Es war ein Wiedererwachen der
     Kindheit, ein Mosaik aus harmonischen, aber auch konfliktreichen Momenten, ein artesisches Wiederaufleben all der unbedeutenden
     Stunden, die zu guter Letzt das sind, worauf es ankommt. Der Augenblick zog sich in die Länge. Lebhaft, mitreißend war in
     diesem beengten Universum allein noch der dumpfe Klang der Spaten, die die frische Erde ausnahmen und erbarmungslos die unschuldigen
     Regenwürmer durchtrennten, eine grausame Notwendigkeit, die sich mit dem ureigenen Duft des Humus entschuldigen, mit der hypnotischen
     Vermählung von Stahl und Schweiß rechtfertigen ließ. Eine wohlige Wärme machte uns ganz benommen. Ichhatte das seltsame Gefühl, eher in mich als in die Erde einzudringen, die sehnige Membran der Realität zu durchstoßen und
     dem sich immer weiter entfernenden Einstieg zu entfliehen. Die Erde türmte sich immer höher und wurde immer schwerer, da der
     Sand, entsprechend der Gewichtigkeit der Situation, mutwillig zurückfiel. Um uns bei Laune und bei Kräften zu halten, hatten
     wir ein Arbeitslied, das der Bergarbeiter und Maulwürfe, der Geheimphilosophien, angestimmt. Wir hatten keine Angst, gehört
     zu werden, denn das Universum endete nunmehr an der Grenze jenes Grabes, in dem wir uns abmühten.
    Wir standen bereits bis zu den Augenbrauen in der Erde, als wir endlich auf etwas Hartes stießen. Der Sarg, die verschlossene
     Tür zu den väterlichen Katakomben. Wir legten ihn ganz frei, dann griff ich nach dem Schraubenzieher. Das Werkzeug zitterte
     zwischen meinen Fingern. Es fiel mir schwer, die Schrauben zu erwischen, aber ich wollte mir nicht von Luc helfen lassen:
     Das Öffnen des väterlichen Sarges ist eine heilige Handlung, die allein ein unwürdiger Sohn einem anderen überlassen hätte.
     Die letzte Schraube löste sich. Da spürte ich, wie mich der Mut verließ, hob eilig den Deckel an, und die Lichtkegel unserer
     Taschenlampen kreuzten sich.
    Da lag Papa. Jedenfalls bis zum Hals. Er war nicht allzu übel zugerichtet. In seinem Sonntagsanzug wirkte er sogar recht ansehnlich.
     Luc reichte mir den Karton mit der Perücke. Ich nahm den Kopf und hielt ihn meinem Vater hin. Respektvoll deponierte ich ihn
     am oberen Endedes Sarges und fixierte ihn mit kleinen Steinen, damit er nicht wegrollte. Mit seinem neuen Kopf wirkte Papa wie eine liegende
     Grabfigur in einer mittelalterlichen Krypta. Es fehlten nur noch der edle Bart aus Stein und das mächtige Schwert – ein König
     mit Goldmaske, der endlich von der Last der Jahrhunderte befreit worden war und für alle Ewigkeiten träumte. Im Banne dieses
     von der Artussage inspirierten Bildes, begann ich die Ouvertüre der
Carmina Burana
vor mich hin zu summen. Ergriffen von der epischen Tragweite dieser Musik, ertappte ich mich dabei, dass ich sie aus vollem
     Hals schmetterte. Ich ließ das Grab von mittelalterlichen Weisen widerklingen. Ich hob ab. Ich zitterte am ganzen Leib. Das
     war der letzte Gruß, die höchste Würdigung meines Vaters, und ich wünschte, sie würde nie mehr aufhören. Luc tippte mir auf
     die Schulter und wies mich auf die rosige Färbung im Osten hin. Ich kehrte zurück ins Hier und Jetzt und versiegelte Papa
     erneut in seiner Kiste, dann griffen wir nach den Spaten, denn es galt, alles rasch wieder in Ordnung zu bringen. Wir mussten
     das pflanzliche Puzzle sorgfältig rekonstruieren: Von unseren Ausgrabungen durften keinerlei Spuren zurückbleiben.
    Gegen sieben Uhr erreichten wir taumelnd die Bucht. Wir waren erledigt, aber zufrieden, glücklich über die vollbrachte Tat,
     und nach einem Bad im Meer suchten wir den Leguan auf, um uns zu seinen Füßen zu sammeln. Wir taten, als kämen wir ohne Schlaf
     aus, doch die nächtliche Anstrengung holte uns schon bald ein, und soversanken wir nebeneinander in einen Traum von tropischer Helligkeit. Ich träumte von einer gewaltigen Sonne, die über dem
     Kilometer 54 aufging. Papa stand in der blutigen Morgenröte auf den Gleisen. Auf seinen Schultern funkelte der goldene Kopf,
     und ich wusste, dass er die Opfergabe angenommen hatte, denn er lächelte. Ich ging zu ihm. Er hieß mich willkommen und hüllte
     mich in seine überwältigende Wärme. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, wandte sich um und setzte sich in Bewegung, da
     die Sonne ihn erwartete. Ich hätte ihn gern

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