Das Lächeln des Leguans
muss gerettet werden. Es gilt also, zum Kilometer zurückzukehren, das ist
der einzige Weg. Ich muss den Albtraum bis zum Ende durchstehen und mich mit dem Geist aussprechen. Ich muss seine wahren
Absichten ergründen und Mamas Befreiung mit ihm aushandeln.
Heiliger Leguan mit den feurigen Augen,
Schütze mich, den Träumer, nunmehr
Vor der Angst vor meinem toten Vater.
*
Ich dachte, ich sei im falschen Traum, denn über die weiße Ebene fegte kein Schneesturm. Der Himmel war ein Flaschenboden,
der die Sterne verzerrte. Ich sah sogleich den Geist, der in dieser verschneiten Einöde stand, während Mama zu seinen Füßen
lag. Er rührte sich nicht. Und noch immer nicht. Und als er sich auch weiterhin nicht bewegte, tat ich ein paar Schritte auf
ihn zu. Er verharrte regungslos. Ein ausgeschalteter Roboter. Eine Statue inmitten des großen Nichts. Da war nur dieser kondensierende
Atem, diese kristallisierte Wolke, die aus seinem zerfetzten Hals aufstieg. Ich machte mich ganz klein, kauerte mich neben
Mama, die im Schatten dieses Geisterbaumes schlief, und flüsterte ihren Namen. Ich sprach ganz leise zu ihr, damit sie aufwachte
und wir gemeinsamdem schrecklichen Wärter entfliehen konnten. Weil sie nicht reagierte, begann ich sie zu schütteln, und da erwachte der Geist.
Er nahm gewaltige Ausmaße an, und aus dem klaffenden Tunnel seines Halses brach ein Blizzard hervor. Ich wurde fortgeweht,
über die gefrorene Ebene gewirbelt, aus dem Traum in mein Bett geschleudert. Verjagt. Bestraft für meine Unverfrorenheit.
Warum eine solche Feindseligkeit? Was ist aus der einstigen Zuneigung, Intimität, Harmonie zwischen uns geworden? Luc meint,
der Geist würde mich nicht wiedererkennen, aber ich denke, er irrt sich. Papa weiß, wer ich bin;
er
ist nicht mehr derselbe. Er hat keinen Kopf mehr, da liegt das Problem.
*
Zwei Nächte später. Nach ein paar erschreckenden Traumgesichten glaube ich, endlich herausgefunden zu haben, wie sich der
Geist besänftigen lässt. Es ist durchaus möglich, sofern man nicht versucht, ihm Mama wegzunehmen. Er lässt es zu, dass ich
mich ihr nähere, ich darf sie sogar, wenn ich will, berühren, aber sobald ich versuche, sie aufzuwecken, hüllt er sich in
eisige Stürme und verscheucht mich vom Kilometer. Solange ich mich allerdings ruhig verhalte, ist er tolerant. Ja, geradezu
gleichgültig. Er ignoriert mich. Er sitzt tatenlos da. Oder umkreist uns wie ein Wachposten. Ich weiß, dass er mich heimlich
beschattet, aber solange ich mich an seine Regeln halte, habe ich wahrscheinlich nichts zu befürchten.
15
Der Kilometer 54 ist ein Gespinst aus diversen jenseitigen Gefilden. Er hat ein Eigenleben, einen flirrenden Rand. Er setzt
sich aus den verschiedensten, bald trostlosen, bald friedlichen, aber noch nie da gewesenen Stunden zusammen, die bisweilen
wie ein Dezembermorgen duften. Tagsüber wirkt er fahl, unbeständig und verhangen, nachts seidig und funkelnd: Der Blizzard
ist bloß sein unerbittlichstes Erscheinungsbild. Ich ahne, dass der Kilometer den Launen des Geistes unterliegt, sich ihnen
anpasst und hingibt. Vielleicht ist es auch das genaue Gegenteil. Beide sind jedenfalls in einer symbiotischen Beziehung wie
durch eine Nabelschnur miteinander verbunden.Der Geist selbst ist alles in allem nicht bösartig. Er sieht furchterregend aus, ohne jedoch aggressiv zu sein. Er schenkt
mir keine Beachtung und scheint nichts zu hören, wenn ich mit ihm spreche. Er lässt mich neben sich hergehen, wenn er beschließt,
Mama stundenlang durch die zerschmetterte Nacht zu tragen, immer den Gleisen entlang, ohne je zum scharlachroten Mond zu gelangen,
ohne je irgendwo anzukommen … So ist der Geist, ein Abbild des Kilometers: voll unendlicher Leere, umnachtet, tödlich und auf seine Weise dennoch großmütig.
*
Kein Windhauch störte die makellose weiße Fläche, und ganze Legionen durch die Luft treibender Flocken fielen träge zu Boden.
Der Geist hielt Mama in den Armen und wiegte sie wie ein kleines Kind. Er streichelte ihre Stirn, ihr Haar, und seine Gesten
waren äußerst behutsam. Ich glaube, er hätte sie, wenn es ihm möglich gewesen wäre, geküsst, und auf einmal erschienen mir
seine Absichten in einem gänzlich neuen Licht. Sollte das Motiv für seine strenge Bewachung meiner Mutter schlicht und einfach
Liebe sein? Brachte mein Vater es möglicherweise nicht fertig, sich von seiner Liebsten zu
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