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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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aufgehalten oder begleitet, doch ich wusste, dass ich das nicht tun durfte. Die
     Sonne öffnete sich wie eine Wunde, um ihn zu empfangen. Ein gewaltiger Tunnel tat sich auf, an dessen Ende scharlachrote Blitze
     flackerten. Mit seinem neuen goldenen Kopf schritt Papa stolz über den Horizont hinweg und verschwand im Inneren des hohlen
     Gestirns. Und als sich am Kilometer 54 der Schock dieses nuklearen Tagesanbruchs offenbarte, flogen Tausende von Krähen davon
     und stoben in alle Richtungen auseinander. Ich wachte weinend auf und ging unter den mitfühlenden Blicken des unumschränkten
     Herrn und Gebieters über den Himmel hinaus ins Freie. Luc gesellte sich am Ufer zu mir. Ich brachte kein einziges Wort hervor,
     aber er brauchte keine Erklärungen; er wusste, dass die Suche nach dem Kopf abgeschlossen war und meine Tränen von meiner
     Gesundung zeugten.
     
    *
     
    Das Erstaunlichste sollte allerdings erst noch geschehen. Als ich später nach Hause kam, waren meine Großeltern ganz außer
     sich und verkündeten mir erschüttert, Mama habe die Augen geöffnet.
    Keine Minute, nur für einen kurzen Augenblick, für die Dauer eines Seufzers, doch habe sie, bevor sie wieder eingeschlafen
     sei, ein paar undeutliche Wörter gesprochen. Ihre Atmung ist regelmäßig, ihr Puls deutlich zu spüren, ihre Haut fühlt sich
     warm an. Und ich weiß, dass dies dem »Goldenen Kopf« zu verdanken ist. Bevor er ins Herz der Sonne gewandert ist, hat er mir
     diesen letzten Liebesdienst erwiesen; er hat Mama freigegeben und ihre Lider entsiegelt. So also geschehen Wunder: ganz plötzlich,
     nachdem man lange Zeit gebetet und gehofft hat.

18
    Sie kehrt allmählich zu uns zurück. Ein Lid hebt sich, eine Pupille treibt wie ein winziges Packeisfragment dahin, ein Murmeln
     dringt kaum hörbar über ihre Lippen, dann versinkt sie wieder in ihrer eigenen Welt. Sie streift lediglich die Oberfläche,
     wie ein Wal, der zum Atmen auftaucht.
     
    *
     
    Sie hat ihre ersten zusammenhängenden Worte gesagt, aber irgendetwas stimmt nicht. Sie verlangte nach einer rätselhaften Person
     namens Grelot. Großmutter hat mir erklärt, es handle sich um eine Perserkatze, ein Haustier, das Mama gehört habe, als sie
     noch klein war. Sie warschon seit zwanzig Jahren tot. Sie hat sich gewiss von der Einrichtung ihres Mädchenzimmers irreleiten lassen, ist in der
     zu engen Haut eines orientierungslosen Mädchens wiederauferstanden, das sich Sorgen macht, seine Eltern so verändert, plötzlich
     so gealtert zu sehen. Mich erkennt sie nicht; das ist ganz normal, da ich einer fernen, für sie nicht vorstellbaren Zukunft
     angehöre.
    Inzwischen fragt sie nach ihrem großen Bruder Hugues und verlangt weiterhin nach ihrer kleinen Katze. Doktor Lacroix, mit
     dem Großmutter telefoniert hat, rät uns abzuwarten, sie vor allem nicht vor den Kopf zu stoßen. Dieses Abtauchen in die Vergangenheit
     sei gewiss nur eine Etappe auf dem Weg, der sie uns zurückbringen werde. Ich hoffe, er behält recht, denn ich kann mir nur
     schwer vorstellen, meine eigene Mutter großzuziehen.
     
    *
     
    Heute Morgen war Mamas Tonband der Erinnerungen an der richtigen Stelle eingeschaltet. Sie nannte mich bei meinem Namen, und
     ihre Lebensjahre hatten sie allesamt wieder eingeholt. Unsere Freude aber war nur von kurzer Dauer, denn nun galt es, all
     ihre Fragen nach ihrem Zimmer, der unbegreiflichen Augustszenerie vor dem Fenster und der gewaltigen Schwäche, die sie ans
     Bett fesselte, zu beantworten. Ihre letzte Erinnerung reichte zurück bis Februar – die Freude auf eine abenteuerliche Fahrt
     mit dem Schneemobil, doch an den Ausflug selbst konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie wollte Papa sehen und warbesorgt, weil wir schwiegen. Großvater übernahm es, ihr vom vierundfünfzigsten Kilometer zu erzählen. Er ging dabei äußerst
     behutsam vor, doch die Realität war allzu entsetzlich, und es brach mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie ein erdstoßartiger
     Schrecken das Gesicht meiner Mutter nach und nach mit lauter Rissen überzog. Ihre einzige Reaktion war ein unheilvolles, blutleeres
     Schweigen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie geweint oder geschluchzt hätte, aber ich sah nur, wie sich eine gewaltige
     Mattigkeit auf sie herabsenkte. Ihr Blick versiegelte sich. Ihre Hand erstarrte in der meinen. Mir war so, als hörte ich hinter
     den Wänden den Blizzard heulen. Der Kilometer 54 nutzte ihre große Verletzlichkeit aus, um sie erneut zu sich zu

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