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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Aspekt der Wahrheit. Denn im Grunde weiß ich, dass Lucile immer wieder über dem Abgrund schwebte und ihn nie aus den Augen gelassen hat. Sogar später, sogar als sie selbst es war, zu der die anderen mit ihrer Not kamen und sie diesen Nöten abzuhelfen versuchte.
     
    Weit mehr als mein Schreiben zeigt Luciles Schreiben (seine Unordnung, seine Sackgassen) die Komplexität ihrer Person, ihre Ambivalenz, die geheime Lust, die sie ihr ganzes Leben lang daran hatte, an die Grenzen zu gehen und ihrem Körper und ihrer Schönheit zuzusetzen.
     
    Mit dreizehn rauchte Lucile allein in ihrem Zimmer ihre ersten Zigaretten, mit weichen Knien und vom Schwindel übermannt. Wenn ich sie heute lese, scheint mir, dass Lucile nichts so sehr geliebt hat wie Trinken, Rauchen und Sichschaden.

[home]
    N ach der Auflösung seiner letzten Werbeagentur arbeitete Georges noch einige Jahre in der beruflichen Fortbildung. Er ließ Liane allein und fuhr kreuz und quer durch Frankreich, um in verschiedenen Handelskammern einem Publikum aus erwachsenen Lernenden Vorträge über Marketing und Werbung zu halten. Nach jedem Kurs hinterließ er enthusiastische und von der Sache überzeugte Kursteilnehmer. Nach dem Eintritt in den Ruhestand gelang es Georges, von Toms Erfolg bei den »Handisport«-Wettbewerben beflügelt, einige Dutzend Kilometer von Pierremont entfernt einen Wasserski-Club für geistig Behinderte zu gründen und am Leben zu halten. Doch er wurde immer älter, und mit dem Alter kam die Melancholie, so dass er seine verschiedenen Aktivitäten nach und nach aufgab.
    Die Kassetten-Aufnahmen für Violette beschäftigten ihn mehrere Monate lang, danach führte er zwei oder drei Jahre lang ein Tagebuch über seine Stimmungen. Dann fand Georges nichts anderes mehr zu schreiben als hin und wieder empörte und zornige Briefe an Behörden und Medien. Er blieb stundenlang allein in seinem Arbeitszimmer, wo er im Sitzen döste oder auf einem alten Tonbandgerät die alten Lieder abspielte, die er so geliebt hatte.
    Im Laufe der Jahre hatte Georges die Lust an der Sprache und am Paradox, an Diskussionen und Wortgefechten verloren. Georges war ein faszinierender und zerstörerischer Vater gewesen, ein hinreißender und verrückter Großvater, nun wurde er ein mürrischer alter Mann. Die Bitterkeit hatte ihn unter sich begraben.
    Mir scheint, am Ende seines Lebens brach Georges jeden Kontakt zu seinen Angehörigen ab, außer zu Liane, die er um ihre Milde beneidete, zu Tom, dem er so viel Hoffnung und Geduld gewidmet hatte, und wahrscheinlich zu Violette, die ihm gegenüber mehr Nachsicht aufbrachte als der Familiendurchschnitt.
    Georges konnte die meisten Leute nicht mehr ertragen, ihn störte schon der Gedanke an ihre Anwesenheit und der Anteil von Lianes Aufmerksamkeit, der ihm durch sie entzogen wurde. Als ich vor einigen Jahren meine Großeltern besuchte, um ihnen die bevorstehende Geburt ihres ersten Urgroßenkels anzukündigen, verließ Georges, verärgert über Lianes überströmende Freude, mit theatralischer Missbilligung die Küche und warf uns noch ein eisiges »Ein Thema, das wir noch öfter werden ertragen müssen!« zu. Die Geburt meiner Tochter und die meines Sohnes rührten ihn nicht im Geringsten. Von Kindern hatte Georges genug (verständlicherweise), und der Gedanke an die mehr oder minder zahlreiche Nachkommenschaft, die er bald haben würde, machte ihm keinerlei Freude. Georges hatte jetzt andere Sorgen, insbesondere den Aperitif, den er von Jahr zu Jahr früher einnahm. Der Wein hatte ihn fröhlich und dann gehässig gemacht, nun stumpfte er ihn ab und machte ihn so müde, dass er, zur großen Erleichterung aller, schlafen ging. Mit seinem schweren Schritt ging Georges die Treppe hinauf, Liane hatte ihm längst den Rang abgelaufen.
     
    Im Laufe der Jahre war Liane für ihre Enkelkinder zu einer Art lebhafter, sportlicher Ikone geworden, der wir, jeder auf seine Weise, unsere Reverenz erwiesen. Ihre Fröhlichkeit, ihre Zuversicht und ihr Witz waren unwiderstehlich. Wir liebten die Musik ihrer Stimme und ihres Lachens, die Poesie ihrer Sprache, ihr liebevolles Siezen, das direkt den Werken der Comtesse de Ségur entsprungen schien. Ihr Wortschatz (
großartig, phantastisch, herrlich, zum Piepen
) passte zu ihrer Persönlichkeit und ihrem immer neu erwachenden Enthusiasmus. Bis mindestens zu ihrem fünfundsiebzigsten Lebensjahr gab Liane, in ihre immer gleichen satinglänzenden Trikots gekleidet, zweimal wöchentlich

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