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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Aufzeichnungen, so dass immer nur einige Seiten beschrieben sind.
    In diesen Aufzeichnungen ist der Gedanke an den Tod in unterschiedlichster Form immer präsent.
    Die Traurigkeit ist nie vorübergehend. Für diese Traurigkeit gibt es durchaus ein Heilmittel, aber es ist radikal und für die anderen unangenehm (einige werden alt werden, andere sterben).
    Ich hätte gern eine unheilbare Krankheit, an der ich jung stürbe. Letztes Jahr hatte ich keinen einzigen Schnupfen.
     
    In einigen Fragmenten jedoch zeigt sich Lucile weniger ernst. Als sie zum Beispiel wieder Gefallen am Gefallen findet und sich allerlei mit dem Apotheker ihres Viertels ausmalt, beginnt sie, ein Werk mit einem sehr pragmatischen Titel zu verfassen:
Tagebuch über eine Aktion zur Verführung eines Apothekers im
15
. Arrondissement.
Präzise und eingehend schildert sie darin die verschiedenen in der Offizin getätigten Einkäufe (Zahnpasta, Paracetamol, Zahnbürste, zuckerfreie Bonbons) und ihre mehr oder minder glaubwürdigen Vorwände, um mit besagtem Apotheker in Kontakt zu treten. Ein Hühneraugenmittel (»Le Diable«, der Teufel) bringt sie in den Genuss ausführlicher Erläuterungen zur Anwendung und zur Aufbewahrung im Kühlschrank. Luciles Schlussfolgerung:
Fünf Minuten Glück für
11,30
 Franc.
    Doch im Laufe ihrer Besuche entdeckt Lucile, dass die junge Frau in der Apotheke, die sie einfach nur für eine Apothekenhelferin gehalten hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach die Ehefrau des Geschäftsinhabers ist. Diese Entdeckung löst folgende Überlegung bei ihr aus:
Einen jüdischen Apotheker vor den Augen seiner Frau vom rechten Weg abzubringen wird ganz schön schwierig werden, das darf ich mir nicht verhehlen.
    Lucile amüsiert sich noch ein wenig, erzählt noch ein paar eher zusammenhangslose Episoden und kapituliert dann.
     
    Zu den von Lucile hinterlassenen Fragmenten, mit denen ich mich länger befasste, gehören: ein Text über meinen drei Jahre nach meiner Tochter geborenen Sohn, als er noch ein Baby war und sie mit seiner neuen Haut und seinem Lallen rührte, eine humoristische Erzählung für meine Tochter, ein verblüffter Absatz über Pierre Bérégovoys Suizid, ein inspirierter Text über die Hände Edgars, des Aquarellisten, und einige außerordentlich schöne Gedichte.
     
    Und dann, auf einem losen Blatt, dieser Satz, der mich zum Lächeln bringt:
Pierremont, da sage ich nein.
     
    Mir war nie bewusst gewesen, eine wie große Rolle das Schreiben in Luciles Leben spielte, und noch weniger, wie groß ihr Wunsch war, veröffentlicht zu werden.
    Ich begriff es, als ich die zerrissenen Seiten eines Heftes aus dem Jahr 1993 fand, auf denen Lucile dieses Vorhaben klar ausspricht und auch auf die bereits gescheiterten Versuche verweist.
    Autobiographische Fragmente. Ich glaube, dieser Titel ist schon verwendet worden, aber er würde gut zu meinen Texten passen. Ich werde sie noch einmal einigen Verlegern, die sich noch nicht entschieden haben, vorlegen und auch die Recherche esthétique beilegen. Ich schaffe es nicht, mich wieder in eine literarische Sicht zu versenken. Es gibt nichts, was mich als Thema reizen würde.
    (…)
    Manon will mir die kleine elektronische Maschine bringen, ich werde mir meine Texte einen nach dem anderen noch einmal vornehmen, mich in sie vertiefen und sie dann in durchgehender Seitenzählung abtippen.
    Zwischen den Seiten eines Heftes fand ich ein knapp gehaltenes Ablehnungsschreiben des Verlags Éditions de Minuit.
     
    Einige Jahre danach schrieb Lucile einen Text über Nébo und gab ihn mir zur kritischen Lektüre, bevor sie ihn unter dem Pseudonym Lucile Poirier (Lucile hat sich also ihren Namen als Romanfigur gewissermaßen selbst ausgesucht) an einige wenige Verlage schickte. Ich wünschte ihr sehr, dass der Text veröffentlicht würde. Wie die anderen Texte auch entwickelt er sich aus Fragmenten und Erinnerungen, zu denen Gedichte, Briefe und Gedanken hinzukommen. Von allen ihren hinterlassenen Texten scheint mir Nébo der gelungenste. Damals wusste ich noch nicht, dass es nicht ihr erster Veröffentlichungsversuch war. In den Wochen darauf erhielt Lucile von allen angeschriebenen Verlagen eine Absage.
     
    Als ich erfuhr, dass
Jours sans faim
[Tage ohne Hunger] erscheinen würde, gab ich ihr das Manuskript zu lesen. An einem Samstagabend, als Lucile zu uns kommen sollte, um die Kinder zu hüten, kam sie betrunken und mit wässrigen Augen. Sie hatte am Nachmittag meinen Roman gelesen, den sie

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