Das Lächeln meiner Mutter
korrigieren sollten. Schwierig wurde es, als sie sich auf die Verteidigung dieser Arbeit vorbereiten musste. Lucile war gelähmt vor Lampenfieber. Sie übte und übte, mit Manon oder mit mir, mit zitternden Händen klammerte sie sich an ihr Papier. Lucile las ab, was sie sagen musste, unfähig, sich von der schriftlichen Krücke zu lösen, und in der festen Überzeugung, sie würde scheitern. Am Tag, als sie die Arbeit verteidigen musste, geriet sie völlig in Panik, sie verschloss sich, bockte und fiel durch. Wir rechneten mit dem Schlimmsten.
Lucile verschob ihr Diplom auf das folgende Jahr und fand eine Stelle in einer Gesellschaft für soziale Wiedereingliederung, wo sie am Empfang saß und einige Verwaltungsaufgaben erledigte.
Nach einigen Monaten bekam Lucile dank der Hilfe einer Sozialarbeiterin, die sie dort kennengelernt hatte und die zu einer ihrer engen Freundinnen wurde, eine Zweizimmerwohnung in einem sozialen Wohnungsbau im 19 . Arrondissement. Eine enorme Erleichterung für sie. Immer schon war Lucile von der Angst verfolgt worden, nicht mehr für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen zu können. Die Zuteilung dieser Wohnung war für sie in diesem Punkt ein bisher nie dagewesener psychologischer Halt, eine kostbare Garantie für die Zukunft.
Manon, die gerade eine Ausbildung als Dekorationsmalerin abgeschlossen hatte, nutzte Luciles Wohnung als Experimentierfeld. Sie verwandelte die seelenlose Wohnung in einen Hafen aus Licht und Farben, in dem man vor lauter Fresko, Patina und Trompe-l’Œil gar nicht mehr wusste, wohin man sehen sollte. Lucile richtete sich an diesem Zufluchtsort mit den prachtvollen Wänden ein; der von ihr selbst ausgesuchte hellgrüne Untergrund dieser Wände erinnerte ein wenig an die Augenfarbe Nébos, der ihr nach einem wenige Monate währenden Idyll zum zweiten Mal erklärt hatte, er liebe sie nicht mehr.
Doch Lucile hatte einen Ankerplatz gefunden. Lucile hatte schon anderen Kummer erlebt, sie sah zu, wie ihre hängenden Fenstergärten blühten und gediehen: Geranien, Hängegeranien, Petunien, Fleißige Lieschen, Hängeverbenen, Blaukissen, Gerbera, Koniferen …
Und Luciles blaue, purpurne, gelbe und weiße Stiefmütterchen erblühten mit Blick in den Himmel.
Am Ende des Jahres unternahm sie noch einen Versuch, ihre Abschlussarbeit zu verteidigen, und bekam ihr Diplom als Sozialarbeiterin. Das war ihr größter Sieg.
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A bgesehen von der
Recherche esthétique,
die mit der Behauptung des Inzests endet, und dem auf Wunsch von Dr. D. geführten Tagebuch der Leere, das ihre Jahre der Benommenheit herausschreit, stammen die meisten von Luciles Texten aus den Neunzigerjahren. Ich spreche von den Texten, an denen sie gearbeitet und die sie getippt hat. Sie fallen also in die Zeit zwischen ihrem letzten Aufenthalt in der Klinik Sainte-Anne und dem Beginn ihres Sozialarbeitsstudiums, in die Zeit, die in gewisser Weise den Anfang ihrer Wiedergeburt markiert.
In dieser Zeit verfasste Lucile den Text über ihren ersten Klinikaufenthalt (aus dem ich einige Auszüge abgeschrieben habe und von dem ich ein von ihr handschriftlich datiertes Exemplar gefunden habe) sowie einen Text mit dem Titel
No romantica,
den sie Graham, dem geigenden Clochard, widmete, nachdem sie erfahren hatte, dass er in dem besetzten Haus, in dem er lebte, ermordet aufgefunden worden war.
Zu diesem Text kommt noch ein anderer, an den ich keinerlei Erinnerung mehr hatte und den ich, glaube ich, nie gelesen hatte, bevor ich mit meinen Nachforschungen anfing. Er existiert in nur einem Exemplar und betrifft ihre Kindheit. Sie spricht darin von Antonins Unfalltod, von dem Fehlen jeder Erinnerung an die Zeit vor diesem Verlust und von dem Schmerz, der auf ihn folgte:
Nie wieder war die Kindheit Harmonie.
Lucile erzählt auf diesen Seiten von ihrer nicht mehr zugänglichen Mutter, von den Fototerminen, zu denen Liane sie nicht mehr begleitet, von den Taxis, mit denen sie allein hinfährt. Die wenigen Erinnerungen an ihre Zeit als Kinderstar leitet sie mit den folgenden Worten ein:
Ich war ein sehr schönes Kind und habe einen hohen Preis dafür bezahlt.
Luciles Texte sind ungeordnet, sie gehorchen keiner Chronologie oder Logik, sie entstehen aus Fragmenten und enden ebenso jäh, wie sie anfangen.
Doch in dem Karton, den Manon mir gab, fand ich viele Notizen und lose Blätter, teils mit, teils ohne Datum, sowie eine Reihe von Heften mit jedes Mal abgebrochenen privaten
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