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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Sektorisierung in die Notaufnahme von Lariboisière gebracht worden war, bevor sie weitertransportiert wurde, war ich völlig niedergeschmettert. Sie war gerade erst eingestellt worden und hatte ihre Probezeit noch nicht hinter sich.
    Lucile hatte die Tür hinter sich zugeschlagen, der Schlüssel war noch in der Wohnung, wir mussten sie von einem Schlüsseldienst öffnen lassen. In der Wohnung herrschte wilde Unordnung, auf dem Boden lagen etwa zwanzig Flaschen, Lucile hatte, buchstäblich und mit einer Schere, die Telefonleitung gekappt und eine Reihe von Gegenständen, Büchern und Kunstdrucken mit Hilfe von Zettelchen oder Klebezettelchen markiert, auf denen in ihrer zittrigen Schrift ihre mehr oder minder verständlichen Wahnvorstellungen standen.
     
    Nach fast fünfzehn stabilen Jahren hatte Lucile einen Rückfall.
     
    Sie wurde in eine in der Nähe der Buttes-Chaumont gelegene Dependance der Klinik Maison Blanche verlegt, in ein kleines lichtloses Zimmer.
    Sie verpasste Violettes denkwürdige Hochzeit, zu der sich die ganze übrige Familie in den farbenprächtigsten Kleidern einfand. Strahlend und wunderschön, schenkte Violette dem Haus in Pierremont sein letztes großes Fest.
     
    Luciles Klinikaufenthalt war nicht sehr lang, der Rückfall war bald behoben, nach einigen Wochen wurde sie mit einem neuen Behandlungsplan entlassen.
     
    Nach einer raschen Rekonvaleszenz nahm Lucile ihre kaum begonnene Arbeit bei der Ecimud (Koordinations- und Eingreifteam für drogenkonsumierende Patienten) im Hospital Lariboisière wieder auf.
    Bei ihrem kurzen Umweg über die dortige Notaufnahme war sie von einer Psychiaterin empfangen worden, der sie bei ihren Einstellungsgesprächen begegnet war und mit der sie zusammenarbeiten sollte. Bei ihrer Rückkehr aus dem Krankheitsurlaub wurde Luciles Arbeitsvertrag bestätigt. Uns teilte sie ihre tiefe Dankbarkeit gegenüber dieser Frau mit, ich weiß nicht, ob sie Gelegenheit hatte, es ihr selbst zu sagen.
    Es waren ihre schönsten Jahre als Sozialarbeiterin.
     
    Einige Monate darauf, als Lucile ihre Orientierung und ihren normalen Lebensrhythmus wiedergefunden zu haben schien, wurde sie manchmal von Ängsten überfallen, war für Momente verwirrt, verdächtigte diesen und jenen und rechnete, wenn es mehrere Möglichkeiten gab, immer mit der schlimmsten. Das machte mir ein wenig Sorge, und ich rief den Arzt an, der sich bei ihrer Aufnahme in die Klinik um sie gekümmert hatte. Dieser redete sehr offen mit mir: Entweder er steckte Lucile wieder in die chemische Zwangsjacke, und dann wäre sie nicht mehr arbeitsfähig, oder er gab ihr die Chance, normal zu leben, dann müssten wir es eben akzeptieren, dass sie hin und wieder irrationale oder argwöhnische Gedanken äußerte.
    »Wie viele andere Menschen auch, die nicht als krank gelten«, fügte er hinzu.
    Dieses Gespräch bestärkte mich in der Überzeugung, dass wir mit Lucile so zurechtkommen mussten, wie sie war, wie sie diese Zeit des Neubeginns durchlebt hatte, mitsamt dieser
Tonhöhe,
die uns manchmal in den Ohren gellte, denn so wurde sie nicht daran gehindert zu leben, zu arbeiten und uns zu lieben. Wir mussten ihr vertrauen, ihr Zeit lassen, damit sie selbst ihre Ängste und Launen in erträgliche Bahnen lenkte.
     
    Überall, wo Lucile in ihren letzten fünfzehn oder zwanzig Jahren war, sogar bei diesem kurzen Krankenhausaufenthalt, fand sie Freunde. Lucile übte auf ihre Umgebung eine eigenwillige, ungewöhnliche Anziehung aus, die mit einer großen Ernsthaftigkeit einherging. Das brachte ihr einzigartige Begegnungen und lange Freundschaften ein.
     
    Ich glaube, der Sinn, den sie in ihrer Arbeit sah, das Gefühl, nützlich zu sein und die Ergebnisse ihres Engagements einschätzen zu können, ihr Wunsch, aus ihrem eigenen Leid herauszukommen, um das der anderen zu lindern, all das war für sie eine Quelle der Stabilität und sogar, zum ersten Mal in ihrem Leben, der Erfüllung.
     
    Lucile nutzte ihren Urlaub mehrmals, um Manon in Mexiko zu besuchen. Sie liebte diese Auszeiten fern der Welt ihres Alltags, das Zusammensein mit Manon und deren Familie, das hübsche Haus, das Stadtviertel Coyoacán, die Bilder von Frida Kahlo und Diego Rivera.
     
    Nach drei Jahren Mexiko, kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter, kehrte Manon nach Paris zurück.
     
    Lucile wurde auf ihren eigenen Wunsch erst von meinen Kindern und später auch von Manons Töchtern mit
Grand-mère-Lucile
angesprochen. Was immerhin eindeutig war.

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