Das Lächeln meiner Mutter
Gymnastikkurse, die in ganz Pierremont berühmt waren. Zudem gab sie regelmäßig Kommunionsunterricht und tat einen Tag in der Woche Dienst in der Gemeindebücherei.
Lianes Heldentaten sorgten für den Gesprächsstoff der Familie. Eines Tages, sie war allein im Haus und schon über achtzig Jahre alt, fiel sie ganz hinten im Keller des Hauses in Pierremont mit dem Kopf voran in den schmalen Behälter der Wasserenthärtungsanlage. Nur ihre Unterschenkel ragten noch heraus. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, sich daraus zu befreien.
Ein anderes Mal schluckte meine Großmutter vor meinen entsetzten Augen einen halben Liter Benzin. Mit einem Schlauch wollte sie günstig eingekauftes und in einem Kanister gelagertes Benzin in den Tank ihres Wagens umfüllen. Und da war ihr nichts Besseres eingefallen, als mit dem Mund den nötigen Unterdruck zu erzeugen, was ihr allem Anschein nach sehr gut gelang. Liane hustete, spuckte, würgte, nahm alle Regenbogenfarben an, krümmte sich, schwankte und taumelte und wurde fast ohnmächtig. Ich glaubte schon, ich müsse hilflos ihrem Hinscheiden zusehen, da richtete sie sich auf und erklärte mir mit angewidertem Lächeln und dunkel umringten Augen: »Schauderhaft!«
Und dann war da noch der Tag, an dem Liane, irgendwie an dem Sessellift verhakt, den sie knapp verfehlt hatte und auf den Manon und ihr Mann Antoine sie verzweifelt zu zerren versuchten, minutenlang über dem Abgrund schwebte.
Liane, deren üppige Formen schließlich dahinschmolzen, wurde zu einer kleinen Gestalt, die – außer während der Mittagsruhe, die sie sich täglich vor irgendeiner Fernsehserie gönnte – ständig in Bewegung war, ein unermüdlicher Wichtel, der, immer tiefer gekrümmt, zehnmal täglich die Treppe hinauf- und hinablief. Bis zum Ende kämpfte Liane gegen die Bewegungslosigkeit an.
Am Ende seines Lebens sprach Georges wenig, nur noch einige wenige Tropfen Galle, die mit einem Seufzer ausgeschieden wurden. Ärger und Gereiztheit hatten sein Gesicht verformt, und um seinen Mund lag stets ein Zug des Angewidertseins. Man überlegte es sich zweimal, ob man in den Zug nach Pierremont stieg, Georges hatte den Besuchern mit seiner Bitterkeit nach und nach die Lust genommen. Er war krank, lehnte es aber ab, sich behandeln zu lassen. Manchmal fiel Georges auf den Boden, einfach so, ganz plötzlich, von einem Stuhl oder einem Hocker. Georges war riesig und steif in den Gelenken, man musste Tom rufen, damit er half, ihn aufzuheben. Dann kam Tom in die Küche, stieß seinerseits einen Seufzer aus, griff seinem Vater unter die Achseln und hievte ihn hoch. Doch Tom lebte schon seit einigen Jahren in einem Heim für Behinderte, ganz in der Nähe der Spezialeinrichtung, in der er arbeitete, er kam nur noch am Wochenende nach Pierremont.
An einem Winterabend, als sie schlafen gehen wollten, brach Georges am Fuß seines Bettes zusammen. Er blieb auf dem Boden liegen, Liane konnte ihn nicht hochheben. Tom war nicht da, also deckte Liane ihren Mann zu, in der Hoffnung, sie werde am nächsten Morgen mehr Kraft haben. Doch am nächsten Morgen gelang es ihr auch nicht. Georges schien gelähmt zu sein. Als der Rettungswagen kam, bekam er einen Demenz-Anfall wie noch nie und wurde in die psychiatrische Klinik in Auxerre gebracht.
Georges hatte das Korsakow-Syndrom, seine Leber und sein ganzer Organismus waren vom Alkohol angegriffen. Von diesem Tag an aß er nicht mehr. Er wurde in ein Hospiz gebracht, in dem er einige Wochen darauf starb.
Liane und er hatten sich gegenseitig versprochen, bis zum Ende zusammenzubleiben und im Haus in Pierremont zu sterben. Liane hatte es zugelassen, dass Georges ins Krankenhaus gebracht wurde, darunter litt sie.
Lucile verknipste einen ganzen Film mit Bildern von Georges auf seinem Totenbett.
Die Messe wurde in der Kirche in Pierremont gelesen. Tom saß vor mir, in seinen Anzug gezwängt und von einem Kummer erfasst, den er nicht beherrschen konnte. Bald hörte ich nur noch das, Toms Schluchzen und Stöhnen, es war ein heiserer, schwankender Gesang, der die Stimme des Priesters übertönte und nie enden zu wollen schien, ein Gesang zu Ehren des Toten und der begrabenen Schmerzen.
[home]
L ucile begann ihre Laufbahn als Sozialarbeiterin im Hospital Avicenne in Bobigny, in der Aids-Abteilung. Sie wusste, dass sie sich nicht das Einfachste ausgesucht hatte, aber sie wollte sich ihrem neuen Beruf stellen und, über die guten Absichten hinaus,
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