Das Lächeln meiner Mutter
vorführten, dann kam eine ganze Reihe wunderhübscher Wollkleider. Die beiden posierten jetzt abwechselnd oder zusammen. Lucile verzog sich in den Umkleideraum, um wieder ihre eigenen Kleider anzuziehen. Dort erst merkte sie, dass ihr eine Träne auf die Wange gerollt war, eine Träne, die sie weder aufsteigen noch hinunterlaufen gespürt hatte und auf die keine weiteren gefolgt waren. Sie wollte ganz einfach keine Fotos mehr machen, und sie würde es ihrer Mutter noch einmal sagen. Sie war nicht dieses junge Mädchen im Faltenrock, sie spielte nicht mehr mit Bällen und Reifen, sie hatte mit dem süßlichen schönen Schein, bei dem sie mitmachen sollte, nichts zu tun. Sie konnte es nicht mehr. Von jetzt an lag etwas hinter ihr, es entfernte sich sogar schon, das sie nach und nach vergessen oder nur noch bruchstückhaft erinnern würde, etwas, dem sie wahrscheinlich eines Tages nachtrauern würde, das Teil der Kindheit war und mit ihr aufhörte.
Madame Richard schenkte Justine und Violette zwei Kleider und löste damit Freudenschreie aus. Dann trug sie Lucile auf, Liane besonders herzliche Grüße auszurichten. Die beiden Mädchen zogen wieder ihre Mäntel an, verabschiedeten sich höflich und gingen zufrieden tuschelnd die Treppe hinunter. Es regnete nicht. Lucile beschloss, zu Fuß in die Rue de Maubeuge zurückzugehen, die beiden Kleinen, die sie links und rechts an der Hand hielt, hieben die Sandalenabsätze in den Boden, immer heftiger, und warteten auf eine Reaktion Luciles.
Lucile spürte ihre warmen Handflächen und lächelte.
Als sie die Wohnungstür öffneten, saß Barthélémy in einem Sessel im Wohnzimmer und blätterte lässig in einer Zeitschrift. Lisbeth wusch im Badezimmer Handtücher, und Milo und Jean-Marc stritten sich im Schlafzimmer, wenn man den Lärm, der trotz der geschlossenen Tür herausdrang, richtig interpretierte. Auf dem Boden lagen schmutzige Wäsche, gebrauchte Lappen und Schulhefte, in der Wohnung herrschte Chaos. Liane war ins Kino gegangen, von jetzt auf gleich.
Manchmal verschwand Liane so, mit einem Mal, wenn der Lärmpegel oder die Unordnung die Schwelle des ihr Erträglichen überschritten hatte. Schon immer hatte Liane dieses Bedürfnis gehabt, sich mitten am Nachmittag zu entziehen und sich in einen Kinosaal zu flüchten oder ins Bett zu fallen. Ob eine Mahlzeit vorzubereiten war, sich das Geschirr in der Spüle stapelte oder die Erde bebte, war dann nebensächlich. Schon als sie noch ganz klein waren, hatte sie ihre Kinder abends in der Wohnung in der Rue de Presles allein gelassen, um sich mit Georges zu treffen, und die empörten Bemerkungen der Nachbarin hoheitsvoll überhört.
[home]
B ereits seit Wochen war es immer dasselbe, was die Scham jedoch keineswegs verringerte. Lucile griff mit beiden Händen nach dem Seil, sprang so vom Boden ab, dass sich ihre Füße ein erstes Mal in den unteren Teil des Seils wickelten, zog den Oberkörper nach oben, um aufrecht zu stehen, und erstarrte dann in dieser Haltung, unfähig, weiter nach oben zu klettern. Weiter oben nach dem Seil zu greifen, es unten loszulassen und sich das Tau wieder um die Füße zu wickeln ging über ihre Kräfte. Das Tau war glatt, zum Verzweifeln glatt, und Lucile hing zwanzig Zentimeter über dem Boden und schaukelte leicht hin und her. Bestenfalls gelang es ihr, in dieser Position mehrere Minuten auszuharren, bevor sie aufgab. Ihre Turnlehrerin, Mademoiselle Mareuil, hatte es anfangs für Koketterie gehalten und dann für eine Provokation, doch schließlich fand sie sich damit ab: Lucile konnte nicht an einem glatten Tau hochklettern und, wie sie bald herausfinden sollte, auch nicht an einem Seil mit Knoten. Während ihre Klassenkameradinnen in drei oder vier gut koordinierten Zügen oben ankamen, blieb Lucile unten, unternahm wenig überzeugende Versuche, sich hinaufzuschwingen, und schaffte nicht einmal der Form halber ein paar Dutzend Zentimeter. Mademoiselle Mareuil sparte nicht mit sarkastischen Kommentaren, die von Woche zu Woche harscher wurden. Sah sie nicht lächerlich aus, die schöne Lucile, wie sie da wie ein Schinken an seinem Bindfaden hing? Allerdings musste man zugeben, dass sie nicht viel in den Armen hatte, und auch nicht in den Beinen. Ein vom Wind verwehtes Insekt. Und so verletzlich. Mademoiselle Mareuil hoffte auf spöttisches Kichern und unterdrücktes Lachen seitens der Mitschülerinnen. Doch sie hörte nichts, kein Tuscheln, kein Flüstern. Auf den Gesichtern nicht
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