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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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wurden. Lucile betrachtete den seltsamen Tod ihres Bruders lange als Suizid. So ohne zusätzliche Erläuterung wirkte die offizielle Erklärung zwar milder, aber sie weckte einige Zweifel und wahrscheinlich auch Schuldgefühle, vor allem bei den Älteren, die Jean-Marc gegenüber immer ambivalente Empfindungen gehabt hatten.
     
    Die Berichte über Jean-Marcs Tod weichen in einigen nebensächlichen Punkten voneinander ab, besonders in der Frage, wer zu diesem Zeitpunkt mit Georges wegen der Baumaßnahmen in Pierremont war (wahrscheinlich Lisbeth und Barthélémy) und wer in Versailles bei Liane (Lucile und die Kleinen).
    Was die Terrorisierung durch die Presse angeht, so wird erzählt, Georges habe seinen Schwager, der damals Chefredakteur bei
Ici Paris
war, gebeten, seinen Einfluss geltend zu machen, um dem ein Ende zu setzen – in einer anderen Version soll Lianes Schwager Claude dieses Ereignis in seiner Zeitung erwähnt haben, was ihm Georges’ unversöhnlichen Groll eingetragen habe. Doch diese Version wurde mir gegenüber mehrmals dementiert.
    Alle sind sich darin einig, dass Liane die Leiche entdeckte und Georges anrief, damit er eiligst nach Hause kam. Außerdem rief sie die langjährige Freundin Marie-Noëlle an, die sofort kam und sich um das Dringendste kümmerte. Milo, damals dreizehn, weinte stundenlang laut um den Bruder, der ihm im Alter am nächsten stand, um seinen verstorbenen Bruder. Der
untröstliche
Milo weinte, wie Barthélémy einige Jahre zuvor Antonins Tod beweint hatte. Heute wird beider Kummer auf dieselbe Weise, mit denselben Worten beschrieben; das Leid der beiden ist durch einen unsichtbaren tödlichen Faden verbunden.
    Ich weiß nichts über Lucile, nur dass sie da war, in einem nicht weit entfernten Zimmer, und dass sie siebzehn war. Ich weiß nicht, was sie getan hat, ob sie geschrien oder geweint hat und welche Spur diese Ereignisse bei ihr hinterlassen haben.
     
    Lisbeth, die jetzt im Süden lebt, hatte mir gesagt, sie habe noch die Titelseite einer Zeitung aufbewahrt, die bei Jean-Marcs Tod erschienen war und deren Überschrift (»Das gequälte Kind hat seine Vergangenheit nicht überlebt«) Georges außer sich gebracht habe. Nach mehreren Tagen Suche rief Lisbeth mich an. Sie habe die Zeitung nicht finden können. Wenn sie so darüber nachdenke, habe sie sie wahrscheinlich weggeworfen.
    Vor einigen Jahren hat Lisbeth beschlossen,
alle bösen Erinnerungen wegzuwerfen.
In dieser Haltung, das heißt, vom Schlimmsten befreit, erzählte Lisbeth mir einige Stunden lang die Geschichte unserer Familie. In den Wochen darauf rief ich sie noch verschiedene Male an, um sie nach Einzelheiten zu fragen, die nur sie kennen konnte. In dieser Haltung hat sie mir die für mich so kostbaren Details und Anekdoten erzählt, und das in einer Breitwand- und Technicolor-Version ohne abrupte Pausen und Kameraschwenks, in der das Leid in jedem Satz unter der Oberfläche spürbar wird, ohne je ausgesprochen zu werden. Lisbeth ist nicht die Einzige. Jeder lebt, wie er kann, und ich respektiere heute ihre Verteidigungs- oder Überlebenslinie, die der von Barthélémy sehr ähnlich ist. Vielleicht weil sie die Ältesten sind. Vielleicht weil sie am stärksten ausgeliefert waren. Lisbeth und Barthélémy haben inzwischen beschlossen, das Beste, das Kapriziöseste, das Hellste zu behalten. Den Rest haben sie weggeworfen. Vielleicht haben sie recht. Wie die anderen auch haben sie mein Projekt enthusiastisch begrüßt, und wie die anderen auch fragen sie sich jetzt, was ich aus alledem machen werde. Sie machen sich Sorgen,
ils tracassent,
wie man in unserer Familie sagt. Beim Schreiben denke ich oft an sie – Lisbeth und Barthélémy, Justine und Violette – mit der unendlichen Zärtlichkeit, die ich für sie empfinde, aber auch mit der Gewissheit, die ich jetzt habe, dass ich sie verletzen und enttäuschen werde.
    Ich spreche nicht von Tom, den alle vergöttern, der achtundvierzig Jahre alt ist und seit einigen Jahren in einem Heim für geistig Behinderte lebt: Er ist der Einzige, von dem ich sicher sein kann, dass er mich nicht lesen wird.

[home]
    B arthélémys Haar war mit einem Schlag gewachsen, wie über Nacht oder durch einen Zaubertrank, es fiel ihm als dichte Masse vor die Augen, wucherte in dicken Locken und wurde von zwei nicht zu bändigenden Wirbeln gekrönt, die Barthélémy nach Belieben hochstehen oder sich ausbreiten ließ. Georges sah rot. Allein schon Barthélémys Haar verkörperte

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