Das Lächeln meiner Mutter
der über ihre Unsicherheiten lachte, sich über ihre Wünsche empörte und über ihre Vorlieben spottete. Eines Tages würden auch Milo, Justine und Violette modische Kleidung und unmögliche Frisuren tragen und Revolutionen anzetteln. Eines Tages würden auch sie ihm davonlaufen.
Liane hörte den Tiraden ihres Mannes ratlos zu und versuchte seinen Worten manchmal die Schärfe zu nehmen. Die Adoleszenz ihrer Kinder war für sie, inmitten der von ihr gegründeten Familie, ein von Mauern umschlossenes unbekanntes Territorium, und sie hatte es aufgegeben, die Forderungen und Demonstrationen aus diesem Territorium verstehen zu wollen, sie waren zu weit entfernt von ihren Erinnerungen an ihre eigene Jugend auf dem Lande und ihre späte Pubertät unter dem Schutz eines Vaters von unbestreitbarer Autorität. Am liebsten hätte sie es gehabt, wenn ihre Kinder klein geblieben wären, wenn sie ein für alle Mal aufgehört hätten zu wachsen. Überhaupt, eigentlich liebte Liane nichts so sehr wie das frische zarte Fleisch der Babys, dieses Fleisch, das sie unablässig mit ihren Küssen verschlang. Natürlich war sie Lisbeth, die Liane seit je unterstützte, nahe geblieben. Natürlich war sie stolz auf Barthélémy, aus dem ein wunderbarer junger Mann geworden war. Im Augenblick arbeitete Milo in der Schule gut mit, las Zeitung und interessierte sich für das Weltgeschehen. Die Mädchen waren klein, und Violette konnte sie noch mit Küssen überschütten. Was Lucile anging, sie rauchte, wenn sie abends von Pigier zurückkam, in ihrem Schlafzimmer, trug höfliche Gleichgültigkeit zur Schau und ließ nichts von ihren Gedanken und Gefühlen erahnen.
Lucile war ihr schon lange entglitten.
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I n den vergangenen Wochen waren Lucile und Lisbeth zweimal später als zu der von ihrem Vater festgelegten Uhrzeit von ihren abendlichen Unternehmungen zurückgekehrt. Als sie von ihren Cousins zu dem großen Fest in Chaville eingeladen wurden, erlaubte es Georges ihnen daher nicht, hinzugehen. Er blieb unerbittlich. Dass sie wochenlang an ihren Kleidern genäht hatten, änderte auch nichts. Im Übrigen bestand Georges auf ihrer Anwesenheit bei dem Abendessen an dem betreffenden Abend, eingeladen hatte er den kaufmännischen Direktor der Agentur, einen jungen Humoristen, den er gerade kennengelernt hatte, sowie den Regisseur einer Fernsehserie, bei der die Kleinen mehrmals als Statisten mitgespielt hatten. Lucile und Lisbeth bemühten sich während des Essens, am Gespräch teilzunehmen und die Fragen, die ihnen gestellt wurden, zu beantworten. Gleich nach dem Dessert baten sie, ins Bett gehen zu dürfen.
Nachdem die Gäste fort waren, ging Georges, verärgert darüber, dass seine Töchter sich so früh zurückgezogen hatten, nach oben, um sie noch einmal nachdrücklich an gewisse Anstandsregeln zu erinnern. Beide Schlafzimmer waren leer, Luciles Fenster stand offen. Georges und Liane sprangen ins Auto und waren keine Viertelstunde später in Chaville.
Georges parkte vor dem Haus. Trotz der geschlossenen Fensterläden erfüllte die Musik die ganze Straße. Liane klingelte an der Tür, Georges blieb im Wagen sitzen. Liane erschien auf der Schwelle des Tanzsaals und sah sich nach ihren Töchtern um. Keine zwei Minuten später und ohne dass ein Wort gefallen wäre, saßen Lisbeth und Lucile auf der Rückbank. Lucile begegnete im Rückspiegel Georges’ Blick und kauerte sich in ihren Sitz. Zurück in Versailles, erstickte er fast an seiner Wut und zerriss vor ihren Augen die Kleider, die sie sich für den Abend genäht hatten. In der Nacht beschloss Lucile, in eine freie Welt zu fliehen. Gleich morgens teilte sie ihren Plan Lisbeth mit, diese ließ sich nicht lange bitten. Lisbeth träumte vom Reisen, von fernen Landschaften und Männern mit melodischem Akzent. Sie hatte keine Angst wegzugehen. Anfangs würden sie in Pierremont leben, unerkannt, bis sie eine kleine Arbeit gefunden hätten und ein wenig Geld zur Seite legen könnten. Und dann könnten sie, falls Lucile sich entschließen sollte, ein wenig beherzter zu sein, weit weg fliehen, viel weiter weg.
Zur üblichen Zeit taten sie so, als wollten sie zum Lycée aufbrechen. Doch statt zur Schule zu gehen, nahmen sie zunächst den Zug von Versailles zur Gare Saint-Lazare und hoben dann in der Sparkasse Lisbeths Ersparnisse ab. Immer schon war Lisbeth die Einzige gewesen, die sparte. Seit kurzem verdiente sie mit Babysitten Geld, um ihre künftigen Reisen zu finanzieren.
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