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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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das
blöde Alter.
Im Übrigen dachte Barthélémy blöd, zog sich blöd an und bewegte sich blöd. Georges war der Auffassung, sich seinen Kindern gegenüber tolerant verhalten zu haben, er hatte ihnen eine liberale Erziehung geboten und ihre Persönlichkeit und ihre Meinungen weitestmöglich respektiert, doch das, nein wirklich, man durfte es nicht zu weit treiben. Es gab Grenzen. Im Leben sei es der erste Eindruck, durch den man endgültig eingeordnet werde. Sich mit solchen langen Haaren, deren Sauberkeit noch dazu in Zweifel zu ziehen sei, irgendwo, wo auch immer, zu präsentieren, bedeute den gesellschaftlichen Selbstmord. Ein vorprogrammiertes Versagen, den absichtlich herbeigeführten Schiffbruch. Georges ertrug weder Barthélémys Haar noch die Art, in der sein Sohn ihm neuerdings in der Öffentlichkeit widersprach, er hasste diese überheblichen Manieren, die Einladungen zu Rallyes, Barthélémys Erfolge beim glucksenden, gackernden Weibervolk und seine leer blickenden Freunde, die behaupteten, die Literatur zu lieben. Barthélémy spielte nicht mehr Tennis (Georges hatte gehofft, sein Sohn werde sich auf Landesebene auszeichnen), ging mit Leuten um, die älter waren als er, und gab sich als Künstler. Seit Barthélémy langes Haar hatte, brauchte er bloß ein Zimmer zu betreten oder in Georges’ Sichtfeld zu geraten, schon wurde seine Ankunft durch eine säuerliche Bemerkung oder einen verzweifelten Seufzer unterstrichen. Barthélémy gebe sich einen Look, das sei ja auch nötig, wenn man keinen Inhalt zu bieten habe, einen Look, um nicht zu sagen, eine Verpackung, und Georges kenne sich weiß Gott aus mit Bluffs und Mogelpackungen, schließlich arbeite er ja schon seit Jahren in der Werbebranche. Georges lag auf der Lauer, machte sich jedes Detail, jedes Schweigen, jedes Zögern zunutze, das ihm Anlass für einen seiner bissigen Monologe bot, die im Laufe der Zeit immer ausgefeilter wurden und jedes Mal mit der an Liane gerichteten kummervollen Schlussfolgerung endeten:
    »Was soll’s, Chérie, er ist eben im blöööden Alter.«
     
    Auch Lisbeths Gezwitscher, ihre lautstarke Fröhlichkeit, ihre Kleidersorgen mochte Georges nicht. Genauso wenig ertrug er Luciles lange Abwesenheiten ohne Angaben zu Ort und Begleitung, ihre hautengen Hosen, die geschminkten Lippen, ihre Art, die Augen zum Himmel zu verdrehen, und ihr missbilligendes Schweigen. Dass Georges’ Kinder anfingen, abends auszugehen, und sich stundenlang darauf vorbereiteten, dass sie sich mit anderen jungen Leuten anfreundeten, deren Namen bei Tisch und noch spätabends die Runde machten, dass sie von allen möglichen Leuten eingeladen wurden, war für Georges eine Entfremdung, die ihn mit voller Wucht traf. All das war im Grunde nichts anderes als Verrat.
    Je mehr Georges’ Kinder heranwuchsen, zu desto schärferem Spott ließ er sich hinreißen. Aknepickel, Erröten, ausweichende Blicke waren Zündstoff für beißende Kommentare. Georges fand tödliche Metaphern, und es entging ihm nichts. Alles, Kleider, Haltungen, Accessoires, wurde unter die Lupe genommen, analysiert und niedergemacht. An manchen Abenden grenzte der Hohn an Lynchjustiz. Denn immer behielt sich Georges den letzten Schlag, das letzte Wort vor.
    Auch Lucile machte keine Ausnahme von der Regel, doch ihr Vater ging nie so weit, sie zu demütigen. Lucile entzog sich seinem Blick, suchte nach toten Winkeln. Ihr Schweigen bot keine Möglichkeit einzuhaken. Sie schien sich allmählich in ein geheimes Parallelleben zurückzuziehen, zu dem er keinen Zugang hatte. Also hielt sich Georges an diejenigen von Barthélémys Freunden, die sich für Lucile interessierten, indem er laut ihre Unkultiviertheit, ihr kränkliches Aussehen oder ihre kläglichen Ambitionen beklagte. Mehr als jeden anderen verabscheute er Forrest, einen Jungen mit Engelsgesicht, der nur für Lucile Augen hatte.
    Lucile hasste die Allmacht ihres Vaters, seinen völligen Mangel an Nachsicht und seine grenzenlose Grausamkeit. Sie betrachtete Georges’ von einem dumpfen Schmerz verzerrtes Gesicht, das angewiderte Naserümpfen, die Bitterkeit in seinen Mundwinkeln. Sie erkannte ihn nicht wieder. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, wann aus Georges dieser bittere Mensch geworden war. Vielleicht aber auch sah sie ihn jetzt erst im richtigen Licht und erkannte das Ausmaß seiner Gewalttätigkeit. Er, der immer geprahlt hatte, die Intelligenz seiner Kinder gehe weit über das gewöhnliche Maß hinaus, war jetzt der Erste,

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