Das Lächeln meiner Mutter
Danach fuhren die beiden Schwestern zur Gare de Lyon, von wo aus sie einige Stunden später den ersten Zug nach Pierremont nahmen.
Nie zuvor hatte Lucile bemerkt, wie düster und verwohnt das Haus war. Wie feucht und eisig die Atmosphäre. Als es Abend wurde, hörte sie vom Speicher her alle möglichen verdächtigen Geräusche. In ihrer panischen Angst bat sie Lisbeth, bei ihr zu schlafen. Am frühen Morgen sahen sie Georges kommen, erleichtert, lächelnd und mit einer Tüte Croissants in der Hand. Er machte ihnen ein üppiges Frühstück, und dann stiegen sie in den Wagen. Keine zwei Stunden später waren sie wieder in Paris.
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G emeinsam mit Forrest schlenderte Lucile über die Boulevards oder ging ins Kino. Barthélémys Freund war vom ersten Tag an in sie verliebt gewesen. Er kam nach Versailles oder nach Pierremont und ließ sie nicht aus den Augen. Forrest war zum Vertrauten und keuschen Verehrer geworden, der auf seine Stunde wartete. Lucile wollte nicht mit Jungs schlafen. Mit ihrem kurzen Jungenhaarschnitt, den Rollkragenpullis, Keilhosen und flachen Schuhen sah sie ein bisschen aus wie Jean Seberg. Forrest wollte Fotograf werden. Er hatte in Pierremont mehrere Bildserien geschossen, darunter eine, bei der Lucile, Lisbeth und Barthélémy auf Eisenbahnschienen tanzen. Am selben Tag hatte Lucile das von Wind und Wetter angegriffene große Emailschild vom Hauptpfosten des Bahnhofs geklaut.
Vor dem Überqueren der Gleise in beide Richtungen sehen. Ein Zug kann einen anderen verdecken.
In Paris hatten sie sich beide vor einem Spiegel fotografiert, Lucile und er, Lucile ganz dicht neben ihm. Doch Forrest sollte für Lucile nur ein erster Flirt sein, eine zärtliche, süße Erinnerung.
Gabriel hatte Lucile schon ein wenig früher kennengelernt, als sie mit ihren Eltern Ferien in Alicante machte. Sie hatten sich in mehreren Sommern gesehen, nebeneinander am Strand gelegen und waren abends mit der Clique ausgegangen. Gabriel war der jüngste Bruder von Georges’ Mitarbeiterin Marie-Noëlle. Sie hatte Georges mehrmals gebeten, ihn mitzunehmen, er brauche Luftveränderung. Gabriel war redegewandt, ebenso brünett wie Lucile blond, hatte einen schmalen, athletischen Körper, kam mit jeder Situation zurecht und wirkte sehr selbstsicher. Gabriel war mehrmals in die große Wohnung gekommen, die Liane und Georges während der Julihitze im Franco-Spanien mieteten. Im letzten Sommer, den Lucile mit ihren Eltern in Alicante verbrachte, schliefen sie und Gabriel zum ersten Mal miteinander.
Einige Wochen später beobachtete Liane, dass die Brüste ihrer Tochter, deren zarte Haut extrem gespannt wirkte, mit jedem Tag voller wurden. Lucile war schwanger. Im Wohnzimmer in Versailles wurde beratschlagt. In Anbetracht ihres Zustands sei es für Lucile ratsam zu heiraten. Sie war achtzehn, also noch nicht volljährig, und Gabriel einundzwanzig. Liane und Georges wollten sie jedoch zu nichts zwingen. Sie müsse es selbst entscheiden. Lucile zögerte nicht. Sie war in Gabriel verliebt, es war für sie an der Zeit, ihre Familie zu verlassen, eine eigene zu gründen und das Leben einer Dame zu führen. Fern vom Getriebe würde sie sich einen eigenen Raum schaffen und sich in der Stille bewegen. Bislang hatte sie sich nie eine Vorstellung von ihrer Zukunft machen, ihr Form und Farbe geben können. Sie hatte sich nie in ein anderes Leben projizieren, neue Umgebungen erfinden können. Weshalb sie manchmal gedacht hatte, ihre Träume seien so groß, so maßlos, dass sie nicht einmal in ihren eigenen Kopf passten.
Im Trubel der Vorbereitungen, die nun fast ihren gesamten inneren Raum in Anspruch nahmen – Verlobung, Heirat, Wohnungssuche –, verharrte Lucile manchmal, den Blick ins Leere gerichtet, und überließ sich einem sanften Gefühl von Freiheit. Von all ihren Geschwistern würde sie die Erste sein, die das Haus verließ. Sie würde den Weg in die Zukunft eröffnen. Dieser Weg erschien ihr zum ersten Mal deutlich, klar und leuchtend.
Lucile und Gabriel heirateten schon im Oktober. Gleich nach der Trauung verließ sie ihr Elternhaus und zog mit ihm in ein winziges Appartement, wo sie die Geburt ihres Kindes erwarteten. Anfang März brachte Lucile in einer Klinik in Boulogne ein kleines Mädchen zur Welt. Später zogen Lucile und Gabriel in eine Wohnung im 13 . Arrondissement.
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N un, da Lucile ihre Familie verlässt, scheint mir, dass diesem seltsamen Gebilde, an dem ich nun schon seit mehreren
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