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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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ihm war. Alain, sein Vetter und einer seiner besten Freunde, erzählte mir einige seiner Erinnerungen an ihn und davon, wie er von der Beziehung zu meiner Mutter gesprochen hatte. Zudem gab er mir eine Fotokopie des Tagebuchs, das Niels in den beiden Wochen vor seinem Tod in einem Schulheft geführt hatte. Ich hoffte, ich würde darin etwas über meine Mutter finden, doch das war nicht der Fall. Der Text besteht aus zusammenhangslosen, immer wieder durchgestrichenen, erstickten Bruchstücken, ich glaube, da gab es für niemanden sonst mehr Platz.
     
    Ich habe sämtliche Brüder und Schwestern Luciles gebeten, mir von Milo zu erzählen, der so jung starb. Von den neun Geschwistern ist er der dritte Bruder, der stirbt. Ich weiß nicht, ob sich solche Schmerzen addieren oder multiplizieren, aber ich denke, für eine einzige Familie wird das doch recht viel.
    Und Lisbeth erwiderte mir mit dem ihr eigenen provokanten Humor:
    »Ach weißt du, wir fingen an, uns daran zu gewöhnen.«
     
    Von Milo wird erzählt, er sei verletzlich gewesen, habe sehr gegen den Vater opponiert, von dem er zerstört worden sei, er habe nie seinen Platz gefunden, habe Jean-Marc am nächsten gestanden und daher besonders unter dessen Tod gelitten, er habe von kleinen Jobs gelebt, an die Revolution geglaubt, für sein Alter zu viel getrunken, einen schweren Liebeskummer durchgemacht, er sei zwei Wochen nach dem errechneten Termin zur Welt gekommen, er sei ungeschickt gewesen und habe alles fallen lassen, er habe als Erster von den Geschwistern Abitur gemacht. Und als Georges ihn feierlich gefragt habe, was er denn damit anfangen wolle, habe Milo mit triumphierendem Lächeln die Zigarette ausgedrückt und geantwortet: »Ferien, und zwar lange.«
    Er hatte Lucile den Text eines von Mouloudji gesungenen Liedes aufgeschrieben und geschenkt, das sie beide damals oft sangen und das auch wir mit ihr sangen. Ich habe weder die Melodie noch die letzte Strophe vergessen:
    Autant de pavés par le monde
    De grands et de petits pavés
    Que de chagrins encavés
    Dans ma pauvre âme vagabonde.
    Je meurs je meurs de tout cela,
    Je meurs je meurs de tout cela
    Et ma chanson s’arrête là.
     
    Auf der Welt gibt es ebenso viele
    Pflastersteine, große und kleine,
    wie gebunkerte Kümmernisse
    in meiner armen Vagabundenseele.
    Ich sterbe, ich sterbe an alledem,
    ich sterbe, ich sterbe an alledem,
    und das ist das Ende von meinem Lied.
    Eines Samstagmorgens ging Milo von zu Hause weg, kaufte in einem Laden (obwohl er keinen Waffenschein hatte) eine Pistole, nahm einen Vorortzug und lief dann tief in einen Wald hinein,
irgendwo im Osten,
wie man mir sagte. Niemand konnte sich mehr erinnern, wie der Ort hieß (ich fand den Namen in einem Text von Lucile, es handelt sich um das Fort von Chelles), den Milo wahrscheinlich ausgesucht hatte, weil er für seine Familie keine Bedeutung hatte und keine Erinnerung damit verknüpft war. Einige Stunden danach sah ihn ein Spaziergänger von weitem auf dem Boden liegen. Der Mann dachte, es handle sich um einen Betrunkenen und ging weiter. Am nächsten Tag sah ihn der Spaziergänger in derselben Haltung daliegen und ging zu ihm. Milo hatte seine Papiere bei sich, Liane und Georges wurden von der Gendarmerie angerufen. Dann informierten sie ihre Kinder. Bis auf Violette, die gerade in die Ferien gefahren war.
     
    Wie bei den anderen auch habe ich die im MP 3 -Format auf meinem Computer gespeicherten Aufnahmen der drei Gespräche, die ich mit Violette bei ihr oder bei mir zu Hause geführt habe, angehört, um sie niederzuschreiben. In dem Augenblick, in dem Violette von Milos Freitod spricht und dabei diesen Umstand – dass man sie nicht zu erreichen versucht, weil sie im Département Drôme Ferien macht – erwähnt, unterbricht sie sich und geht dann für einige Minuten weg. In dieser Pause höre ich mich laut sagen: »Das ist doch verrückt.« Als Violette in das Zimmer zurückkehrt, erkläre ich ihr, wie sehr es mich erstaunt, dass man sie nicht benachrichtigt hat. Es scheint sie nicht so zu schockieren. Ich fange an zu argumentieren: Sie hätten dich benachrichtigen sollen, damit du den Schock und das Entsetzen mit ihnen teilst, dich dem Schmerz zur gleichen Zeit stellst wie die anderen. Doch sie erfährt es erst acht Tage später. In der Zwischenzeit war Barthélémy mit seinem Vater im gerichtsmedizinischen Institut, um den Leichnam zu identifizieren, und Milo wurde in L. neben Antonin und Jean-Marc begraben. Violette

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