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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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mehr, manchmal drückte sie mir die Luft ab. Ich wusste nicht, was sie zu bedeuten hatte. Langsam nahmen meine Befürchtungen Gestalt an: Ich hatte Angst, sie tot aufzufinden. Jeden Abend, wenn ich den Schlüssel ins Schloss steckte, war das mein Gedanke: Und wenn auch sie es getan hat? Es wurde zu einer Besessenheit. Wenn ich die Wohnung, allein oder mit Tadrina, betrat, glitt mein Blick zuerst über den Teppichboden im Wohnzimmer (Tote lagen auf der Erde, das hatte ich am Rande der Gespräche mitbekommen), danach sah ich in ihrem Schlafzimmer nach. Dann erst konnte ich aufatmen.
    Kurz nach dem Tod ihres Bruders hatte Lucile mit einem blutroten Lippenstift an den Badezimmerspiegel geschrieben: »Ich schaffe es nicht mehr lange.« Manon und ich kämmten uns jeden Morgen vor diesem Spiegel, und diese Warnung war wie auf unsere Wangen tätowiert.
     
    An gewissen Abenden, an denen Manon und ihre Freundinnen später nach Hause kamen als wir, machten Tadrina und ich uns einen Spaß daraus, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war eine regelrechte Beschäftigung, genauso wie die Telefonstreiche, die Tanzwettbewerbe, die Barbiepuppen und ihre Kleider, unsere Parfümfläschchen-Sammlung (zusammen hatten wir vierhundert Pröbchen) und das dazugehörige Parfümerieverkäuferinnen-Spiel. Eines Abends versteckten wir uns im Wandschrank im Flur, als Manon und Sabine, die Tochter der Nachbarn unter uns, in die Wohnung kamen. Während sie sich in der Überzeugung, sie seien allein, über den Nachmittagsimbiss hermachten, begannen wir mit schrecklichen Quietsch- und Pfeifgeräuschen. Verängstigt näherten sie sich dem Wandschrank, und da brachen wir in ein makabres, dämonisches Lachen aus. Sie schrien auf und waren wie der Blitz aus der Tür, um Sabines Vater, der gerade nach Hause gekommen war, zu holen. Er kam herauf und entdeckte uns beide, hochrot und schuldbewusst stammelten wir ein paar zusammenhangslose Entschuldigungen.
    Später machte mir Manon Vorwürfe wegen dieser Einschüchterungsaktionen, wegen meines Platzes in der Familie und wegen meiner Dominanz als Ältere. Vielleicht brauchte ich es, dass auch sie Angst hatte, dass sie diesen Zustand der Unbekümmertheit, in dem sie mir zu leben schien, verließ und meine Bestürzung teilte. Vielleicht war ich ganz einfach neidisch auf sie, weil sie zu Lucile noch in einer Beziehung stand, die ich schon lange verloren hatte.
     
    Wenn Lucile es nicht mehr schaffte, uns etwas zu essen zu machen, schwelgten wir in einem
Dîner belge
(heißer Kakao und Brot mit Butter). Als ich einer Freundin später erläuterte, worin dieses belgische Dinner bestand, erklärte sie mir, bei ihr zu Hause heiße es
Dîner suisse.
    Danach ging jede von uns dreien ihren Betätigungen nach. Wir hatten keinen Fernseher, solch passive Vergnügungen kamen Lucile nicht ins Haus.
     
    An manchen Abenden hörten wir die Platten, die Lucile liebte:
    »Bella Ciao«
(das Lied der italienischen Partisanen), Chick Corea, Archie Shepp, Glenn Gould. Jeannettes Lied
»Porque te vas«
 – wir kannten es aus dem Film
Cría Cuervos,
den wir mit ihr gesehen hatten – wurde zu unserer Haushymne. Das Bild der sterbenden Geraldine Chaplin verfolgte mich noch lange. Und wenn meine Mutter auch so sterben würde, wenn sie an einem stillen Kummer verbluten würde?
     
    In dem Sommer, in dem ich zwölf war, bekamen mein Vater und seine Frau einen kleinen Jungen, Gaspard. Mir schien, dass ihn ein leichtes Leben erwartete, dass die Dinge für ihn weniger hart sein würden, als sie es für uns waren. Wir kümmerten uns gern um ihn, wickelten ihn, gaben ihm sein Fläschchen und brachten ihn zum Lachen. Später bewunderten wir seine ersten Schritte.
    An einem Wochenende sprach ich mit Gabriel über die Sorgen, die ich mir um Lucile machte. Wahrscheinlich sprach ich es da zum ersten Mal aus: Ich habe Angst, dass sie sich umbringt. Er fragte nach Einzelheiten. Ich erzählte ihm von ihrer Einsamkeit, ihrer Müdigkeit, davon, wie sie sich stundenlang einschloss und rauchte.
     
    Im Zug nach Hause hatte ich nur einen Gedanken: Ich war eine Waage.
     
    Meine Beziehungen zu Lucile verschlechterten sich noch mehr, als sie mir vorwarf, ich hätte die Dose gestohlen, in der sie ihre Shit-Riegel aufbewahrte, und sie meinem Vater gegeben, damit er sie als Beweismittel gegen sie einsetzen könnte. Einige Tage später fand Lucile die kleine rosa Dose, die sie selbst versteckt hatte, wieder und entschuldigte sich bei mir. Noch später

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