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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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las sie mein persönliches Tagebuch, in dem es um sie und um meine Angst ging, gestand es mir und versprach, alles werde wieder in Ordnung kommen.
     
    Lucile wusste, dass ich sie mit der Strenge meiner zwölf Jahre beobachtete, mit diesem Ausdruck von Allwissenheit, ohne etwas gelernt zu haben, dass ich ihr schweigend meine Missbilligung kundtat. Lucile wusste, dass ich über sie urteilte.
     
    Eines Abends, als uns eine meiner Tanten, bei der wir zu Abend gegessen hatten, nach Hause brachte, rammte uns der Wagen, der von hinten zu dicht aufgefahren war, mit einem lauten metallischen Krachen. Manon und ich saßen auf der Rückbank. Lucile schnellte vorn aus dem Auto heraus, riss unsere Tür auf und warf sich mit dem Schrei »Meine Tochter! Meine Tochter!« auf Manon. Dieser Singular, den sie selbst in dieser äußersten Panik verwendete, erschien mir als der Beweis dafür, dass sie mich aufgegeben hatte. Schon seit langem gab es keinen Körperkontakt mehr zwischen uns. Manon kletterte ihr auf den Schoß, küsste und umarmte sie, Manon bemerkte nichts: Manon war
ihre
Tochter. Ich war zu ihrer Feindin geworden, ich war auf Seiten meines Vaters, auf der Seite der Bourgeois, der Reichen und der Reaktionären, ich zählte nicht mehr.
    Natürlich erscheint mir die Episode jetzt, da ich darüber schreibe und keinerlei Zweifel mehr daran habe, dass Lucile mich geliebt hat, unter einem ganz anderen Licht, das mein eigenes Verhalten in Frage stellt, meine Art, besonders stark erscheinen zu wollen, wenn ich besonders schwach bin, so dass ich die anderen wahrscheinlich schließlich von meiner Stärke überzeuge.
     
    Eines Abends nahm mich Lucile mit ins Theater, wir sahen
Les Mille et Une Nuits,
inszeniert und aufgeführt von Jérôme Savary und seinem
Grand Magic Circus.
Ich trug eine rote Bluse, die meine Mutter mir geschenkt hatte, ich hatte mich
schick
gemacht, denn soweit ich mich erinnere, ging ich zum ersten Mal zu einer solchen Vorstellung (mal abgesehen vom Puppentheater im Jardin du Luxembourg). Entzückt entdeckte ich diese überströmende Welt mit ihren üppigen, kraftvollen Frauen. Der Humor und die Maßlosigkeit dieser Inszenierung beeindruckten mich zutiefst, und ich spürte vage, dass es hier um das Intensivste, Freieste und Wunderbarste am Leben ging. Das Licht brach sich in den Edelsteinen und dem Gold der Kostüme, und diesen Glanz wollte ich festhalten und nie vergessen.
     
    Zu derselben Zeit verknallte sich ein Junge vom technischen Zweig des Collège in mich. Er war etwa fünfzehn oder sechzehn, seine Sprechweise und das, was er sagte, ließen eine geistige Zurückgebliebenheit vermuten. Er lauerte mir nach der Schule auf, folgte mir auf der Straße und wartete in Hauseingängen und Tunneln auf mich. Er kannte meine Zeiteinteilung und meine üblichen Wege. Er machte mir immer mehr Angst. Tad und ich überlegten uns alle möglichen Strategien, um ihm aus dem Weg zu gehen und seiner Wachsamkeit zu entkommen. Wir liefen Umwege und blieben manchmal noch stundenlang im Schulgebäude, um ihn zu entmutigen. Eines Abends, als wir in dem kleinen Lebensmittelgeschäft des Viertels Einkäufe für Lucile erledigt hatten, hatte sich der Junge im Schatten eines Hauseingangs verborgen. Als wir auf seiner Höhe ankamen, warf er sich auf mich und versuchte mich auf den Mund zu küssen. Ich stieß ihn zurück, Tadrina griff nach einer großen Konservenbüchse und stellte sich mit erhobenem Arm und drohenden Erbsen zwischen uns. (Diese Szene sind wir danach immer wieder durchgegangen.)
    Der Junge sah mich an und sagte mit seiner belegten Stimme diesen Satz, den wir seiner Komik wegen bis heute manchmal zitieren:
    »Du sagst mir nichts?«
    Wir rannten, so schnell wir konnten. Auf meiner Hand, die ich gerade noch vor meinen Mund hatte halten können, spürte ich seine feuchten Lippen und seinen klebrigen Speichel. Zu Hause bürstete ich sie mit einer Nagelbürste. Ich sagte Lucile nichts davon. Lucile konnte nichts für mich tun.
Du-sagst-mir-nichts
(so nannten Tad und ich ihn von nun an, weil wir seinen wirklichen Namen nicht kannten) bereitete mir noch lange unruhige Nächte.
     
    Außer in Französisch befanden sich meine Schulnoten im freien Fall. Ich machte keine Hausaufgaben, lernte nicht, sondern lag die ganze Zeit bäuchlings auf dem Teppichboden meines Zimmers und las. Tad und ich begannen, in den Läden der Stadt zu stehlen, Schokoladentafeln, Kekspackungen, Lipgloss – lauter kleine Herausforderungen an uns

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