Das Lächeln meiner Mutter
selbst, denen wir uns unerschrocken stellten.
Ich wurde regelmäßig von einer Migräne niedergestreckt und musste dann vor Unterrichtsende nach Hause wanken, um mich dort im abgedunkelten Raum hinzulegen, mit einem Presslufthammer im Schädel und einem feuchten Waschlappen auf den Augen.
Mittwochs fuhren Manon und ich mit der Metro und der Vorortbahn RER in das zahnmedizinische Institut in der Rue Garancière im 6 . Arrondissement. Dort waren wir lange Stunden den mehr oder weniger geschickten Händen der Zahnarztlehrlinge ausgeliefert, Manon vormittags und ich nachmittags. Mittags trafen wir uns mit Bérénice, einer von Gabriels älteren Schwestern, sie ging mit uns in einer Bar essen und nahm uns dann zum Nachmittagsimbiss mit zu sich nach Hause, wo ich das Gefühl hatte, wir seien endlich in Sicherheit.
Doch sobald wir bei uns zu Hause waren, standen wir wieder vor der von Woche zu Woche deutlicher werdenden Realität: Nach Niels’ und dann Milos Tod begann Lucile den Halt zu verlieren, und Manon und ich waren die einzigen Zuschauerinnen dieses Untergangs.
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U nsere Jahre in Bagneux sind die Jahre, zu denen ich in den Gesprächen am wenigsten Erinnerungen an Lucile erzählt bekam. Niemand konnte sich erinnern, wo sie damals arbeitete, womit sie sich beschäftigte, mit wem sie Umgang hatte oder wie sie diese Jahre überhaupt durchlebt hat. Ich glaube, Lucile hat sich nach und nach von ihren Freunden und ihrer Familie zurückgezogen, ist aus ihrem Leben verschwunden, um ihr Umherirren zu verbergen oder um zu versuchen, ganz wie die anderen ihr eigenes Leben zu leben.
In einem Karton, den ich von Keller zu Keller mit mir schleppe, fand ich das Tagebuch wieder, das ich mit zwölf zu schreiben angefangen habe. Für diesen Zeitraum und die sich daran anschließenden zehn Jahre ist es meine wertvollste Quelle.
Zu Beginn dieser Seiten spreche ich in einer stockenden Schrift von Lucile, von der Distanz, die zwischen ihr und mir entsteht, von meiner wachsenden Angst, dass ich sie, wenn ich abends aus der Schule nach Hause komme, auf dem Boden liegen sehe. Lucile hängt am seidenen Faden, und Manon und ich leben in der Furcht vor dem Ereignis oder der Kleinigkeit, die ihr zum Verhängnis werden.
Die sogenannte
Freitod
-Periode (denn bald wird sich auch Luciles Vetter, der ebenfalls in Clamart wohnte und der Vater von Justines Kind ist, eine Kugel in den Kopf schießen) gehört zu den Themen, die mir als Leitfaden für meine Unterhaltungen dienten. Über meine eigenen Erinnerungen hinaus wollte ich das Ausmaß der Schockwelle ausloten: wissen, was im Zusammenhang mit diesen Toten gesagt, geflüstert, getuschelt wurde – welche Vermutungen und Gewissheiten es gab und wie es möglich war, das zu überleben.
Wenn man sich dafür interessiert, welchen Weg Lucile in den folgenden Monaten ging, was sie dazu trieb, die Realität endgültig zu verlassen, darf man nichts davon außer Acht lassen.
Der Legende nach haben alle drei, Niels, Milo und Baptiste, an einem Abend, als sie etwas Geld zu verjubeln hatten und daher in einem besseren Restaurant speisten, versprochen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der Legende nach gab es einen Pakt zwischen ihnen, von dem Lucile wusste und an dem sie sogar stillschweigend beteiligt war. Aus den Gesprächen ging hervor, dass noch heute mehrere Menschen einen solchen Pakt vermuten oder sogar von seiner Existenz überzeugt sind. Manche meinen, das Restaurant, in dem er geschlossen worden sein soll, sei das Lasserre, andere vermuten, es sei das Pré Catalan. Justine, die ich danach gefragt habe, glaubt nicht, dass es diesen Pakt wirklich gegeben hat.
Weil es mir mehrmals empfohlen wurde, habe ich zum ersten Mal
Sterben mit
30
gesehen. Dieser Film von Romain Goupil erzählt vom politischen Engagement in früher Jugend, vom Kampf und von der Desillusionierung. Es geht darum, die besondere Epoche und die Art, wie sie das Geschehen beeinflusst, zu berücksichtigen. Das trifft bei allen dreien zu. In der Zeit, als die drei Selbsttötungen stattfanden, war diese politische oder philosophische Vision, den Worten Taten folgen zu lassen, manchmal stärker als alles andere. Später fragten sich manche, inwieweit der Verlust der Illusionen bei jedem Einzelnen von ihnen mit anderen, weit persönlicheren Brüchen in Wechselwirkung getreten war.
Alle, die mit Niels Kontakt hatten, erinnern sich, wie allgegenwärtig der Gedanke des Freitods in den Gesprächen mit
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