Das Lächeln meiner Mutter
beiden Figuren in Samuel Becketts Stück, zwei Vagabunden, die, als wäre er der Messias, einen weiteren Kumpanen erwarten, der aber nie kommt. Ich las dieses Buch also mit zwölf und verstand wahrscheinlich nicht viel, doch es brachte mich auf die Frage: Was erwarteten wir, Manon und ich, welchen Boten, welchen Retter, welche wundersame Gestalt, die imstande wäre, uns da rauszuholen, die krank machende Spirale, in der Lucile gefangen war, zu durchbrechen und uns die früheren Zeiten zurückzubringen, als Luciles Schmerz noch nicht so übermächtig, noch nicht mit bloßem Auge zu erkennen gewesen war? Was erwarteten wir, außer dass unsere Mutter wieder mit etwas in Kontakt treten würde, das zum Leben gehörte? Aus meiner Sicht brachte ihr der Mann, mit dem sie zu jener Zeit viel zusammen war, nichts, im Gegenteil, es war ein ausweichender Mann, der sie nach unten zog. Robert lachte albern, ging auf Zehenspitzen und brachte den Teppichboden zum Quietschen, Robert war durchgeknallt und sah nichts, vor allem nicht, wie sehr alles schwankte und dass es nichts Stabiles mehr gab.
Lucile rauchte immer mehr, und wenn sie keine Zigarette mehr hatte, aß sie den Shit im Kuchen oder stopfte ihn sich einfach so in den Mund.
Eines Abends lag Lucile in der Badewanne und rief mehrmals nach mir. Die Türen standen offen, ich saß in meinem Zimmer auf dem Boden und schnitt mir die Nägel. Ich bat sie, einen Moment zu warten. Lucile rief noch einmal und fragte, was ich gerade mache. Plötzlich sah ich sie aus der Badewanne auftauchen, tropfnass und voller Schaum. Im nächsten Augenblick stand sie in meinem Zimmer und sah sich prüfend um. Lucile dachte,
es sei etwas zwischen Robert und mir vorgefallen,
mit diesen Worten hielt ich es, an meiner Empörung schier erstickend, in meinem Tagebuch fest. Wie konnte Lucile auch nur denken, ich würde diesen fiesen Typen, der mir absolut zuwider war, auf weniger als einen Meter fünfzig an mich herankommen lassen? Keine Sekunde lang kam mir der Gedanke, Lucile könne Angst um mich gehabt haben, ganz im Gegenteil glaubte ich wegen ihrer Aggressivität mir gegenüber, sie habe mich in irgendeinem Verdacht.
Lucile hatte den Ledertaschenhersteller verlassen und war nun Sekretärin in einer Beratungsfirma für Vertrieb und Verkaufsförderung. Sie kam mit einer ihrer Kolleginnen, Marie-Line, in Kontakt, die nach und nach zu ihrer Freundin wurde. Marie-Line war etwa so alt wie Lucile, hatte einen Pagenschnitt, trug Blusen mit runden Kragen und darüber marineblaue Westen aus feiner Wolle, war mit einem Mann verheiratet, der in einer Bank arbeitete, und bevorzugte Hosenanzüge, was mir damals als unwiderlegbarer Beweis für Seriosität erschien. Marie-Line und ihr Mann hatten eine Tochter, die etwas jünger war als Manon. Hin und wieder luden sie uns zum Mittagessen in ihre moderne und perfekt aufgeräumte Wohnung im 15 . Arrondissement ein, manchmal kam Marie-Line auch zu uns. Heute würde man Marie-Line als
bon chic bon genre,
als edelschick, bezeichnen, aber ich weiß nicht, ob es den Ausdruck damals schon gab. Sehr bald schon verkörperte Marie-Line für mich das Idealbild der berufstätigen Hausfrau und Mutter.
Eines Abends, wir waren gerade aus der Schule zurück, fanden Manon und ich die Einsamkeit der beiden weißen Mäuse, die uns Lucile einige Wochen zuvor geschenkt hatte und die jede für sich in einem Käfig saßen, unerträglich. Eine genaue Betrachtung der Säugetiere führte zu dem Schluss, es handle sich um zwei Männchen und daher könne man sie gefahrlos zusammentun. Einige Wochen danach piepste ein Dutzend rosa Bällchen im Käfig von Manons Maus Jack, die allem Anschein nach doch ein Weibchen war. Die Mäusebabys machten einen unheimlichen Lärm, und Lucile würde bald nach Hause kommen. Also mussten wir sie, den Tod im Herzen und mit rebellierendem Magen, mit Äther töten und in den Müllschlucker werfen.
Wir lebten unsere Kinderleben. Während wir auf Lucile warteten, erfanden wir Zaubertränke und Monsterspeisen, tauschten unsere Puppen, Stifte, Hefte, malten jede für sich, wir lausten uns, zogen uns an den Haaren oder tanzten zur Musik von
Grease,
wir hatten das Musical im Kino gesehen. Manchmal gingen wir nach unten zu unserer Nachbarin Sabine, um fernzusehen.
Einmal in der Woche fuhr Lucile nach Paris, zur Klavierstunde bei Mademoiselle C. Wieder zu Hause, nahm sie sich die Noten vor, manchmal übte sie mehrere Stunden und wiederholte unendlich
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