Das Lächeln meiner Mutter
unsere jeweiligen eigenen Überzeugungen oder eben nicht.
Vielleicht ist das das Schwierigste, dass man Georges nie hassen, ihn aber auch nie ganz freisprechen konnte. Lucile hat uns als Erbe diesen Zweifel hinterlassen, und der Zweifel ist ein Gift.
Einige Monate nach dem Verfassen dieses Textes und dem Schweigen, das um seine Verteilung im Familienkreis herrscht, wurde Lucile zum ersten Mal in eine Anstalt eingewiesen. Beim Schreiben ist das Zuordnen das, was die Montage beim Bild ist. Durch die Art, wie ich meine Sätze schreibe und nebeneinander stelle, gebe ich meine Wahrheit zu erkennen. Sie gehört nur mir.
[home]
L ucile ertrug die abgeschlossene Atmosphäre der Wohnanlage in Bagneux nicht mehr, den im Laufe der Zeit verschmutzten Teppichboden, die von oben nach unten gesprungenen Doppelglasfenster, den langen Weg zur Arbeit in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ende Juli besichtigte sie um ein Uhr mittags eine Wohnung im 9 . Arrondissement, ganz in der Nähe des Viertels, in dem sie als Kind gelebt hatte. Die Wohnung war viel größer als die anderen, die zum selben Preis angeboten wurden, und erschien ihr sauber und hell. Küche und Bad waren geräumig und bereits eingerichtet. Der Immobilienmakler drängte, und sie unterschrieb den Vertrag sofort. Lucile kümmerte sich um den Umzug, strich unsere Schlafzimmer neu, und kam dann zu uns in den Süden, wo wir bei Liane und Georges in den Ferien waren. Alles war, als hätte der Text nie existiert, als hätte nichts von alledem (die dunklen Stunden, die Vorwürfe) je stattgefunden. Ende August fuhren wir drei zurück. Und da erkannte Lucile das Ausmaß ihres Fehlers.
Im Haus Nummer 13 der Rue du Faubourg-Montmartre gelegen, befand sich unsere Wohnung direkt gegenüber der Diskothek
Le Palace
und dem Sitz der Zeitung
L’Équipe.
Durch diese enge Straße fuhren zwei Buslinien, und unzählige Touristenbusse rollten zu jeder Tages- und Nachtzeit unter unseren Fenstern Richtung Pigalle oder Folies-Bergère. Die Straße war eine der lautesten von Paris, überall und immer herrschte Getriebe. Wenn wir in der Eingangshalle unseres Gebäudes zur Treppe wollten, mussten wir erst an der Schlange des
Studio
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vorbei, eines lokalen Kinos, dessen Programmplanung (B-Movies, Z-Movies und noch schlechtere, zwei zum Preis von einem) mir bis heute ziemlich schleierhaft ist. Vom Küchenfenster aus konnten wir unglaublich fette Ratten sehen, die sich in aller Ruhe am Inhalt der Mülltonnen des benachbarten Fastfoodladens gütlich taten, die Neonreklamen blinkten die ganze Nacht, und nicht selten kam es vor, dass wir, wenn
Le Palace
schloss, von Schreien und Polizeisirenen geweckt wurden. Ich stand auf und beobachtete, hinter der Gardine versteckt, die Auseinandersetzungen, die Razzien und das Auseinanderlaufen der Menge nach den Streitereien.
Lucile arbeitete immer noch als Sekretärin in derselben Vertriebsförderungsgesellschaft, spottete gern über ihren Chef, träumte von langen Reisen in weite Fernen und erzählte uns manchmal Anekdoten aus dem Büro.
Manons Zimmer war zum Wohnzimmer hin offen, wo Lucile ihr Bett aufgeschlagen hatte. Luciles Matratze lag auf Holzpaletten, die ihr als Bettgestell dienten. Jeden oder fast jeden Abend hörte Manon Lucile weinen.
Ich ging in die vierte Klasse eines Collège in der Rue Milton und fuhr mit dem Bus zur Schule. Fern von Tadrina und unserer kindlichen Verschworenheit erschien mir die Adoleszenz als wahrer Kreuzweg: Ich trug eine Zahnspange, die meine Cousins
das Atomkraftwerk
nannten, hatte nicht zu bändigendes krauses Haar, winzige Brüste und Spinnenschenkel, ich errötete, sobald man das Wort an mich richtete, und konnte die ganze Nacht nicht schlafen, wenn ich in der Schule ein Gedicht aufsagen oder ein Referat halten musste. Um mir in dieser für mich so einschüchternden Pariser Umgebung Haltung zu geben, erfand ich mir die Rolle eines einsamen, traurigen jungen Mädchens, das von einem geheimen Kummer verzehrt wird, und lehnte jede Einladung ab, die mich von meinen Qualen hätte ablenken können. Manon, die die vierte Klasse einer Grundschule im Viertel besuchte und deren Freundinnen zumeist Jüdinnen waren, behauptete, auch sie sei Jüdin, und dachte sich religiöse Feste und inbrünstige Gebete aus. Als Erklärung für ihre Gesichtsform (groß und flach wie bei Faye Dunaway) erzählte Manon jedem, der es hören wollte, sie habe auf einem widerspenstigen Pferd im vollen Galopp einen Baum gerammt.
Manon
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