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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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suchte als Georges’ berufliche Erinnerungen und einige Anekdoten über die Rue de Maubeuge, zu der mir noch die Atmosphäre fehle, um diese Zeit zu beschreiben. Was übrigens insofern stimmte, als ich nicht damit rechnete, in diesem Material irgendeine Spur von Georges’ ambivalenter Haltung gegenüber Lucile zu finden.
    Zu der Zeit, als Georges seine Memoiren aufnahm, sagte er eines Tages zu Violette, eine Kassette habe er ihrer Sexualität gewidmet. Sie sagte ihm klar, dass sie das nicht wolle. Vierzehn Tage später erklärte er ihr, er habe sie vernichtet. Sie war es, die mir das erzählte.
     
    Violette ließ mich die Kassetten mitnehmen.
     
    Lucile und Georges sind beide tot, es ist zu spät dazu, die Wahrheit herauszufinden. Lucile litt an einer bipolaren Störung, und Inzest könnte zu den auslösenden Faktoren für diese Krankheit gehören. Ich habe dazu keine statistischen Untersuchungen gefunden. In dem Text, den Lucile hinterlassen hat, sagt sie, dass Georges ihr ein Schlafmittel gegeben und sie dann vergewaltigt habe.
    In den Schriften, die wir bei ihr fanden (Schriften, die sie ebenfalls nicht weggeworfen, die sie uns also zur Kenntnisnahme überlassen hat), stieß ich auf einen der Vorentwürfe zu diesem Text, den sie mit Bleistift in ein Schulheft geschrieben hatte. Darin werden die einzelnen Schritte bei der Ausarbeitung deutlich.
    Letztes Bild = Wir fahren mit meinem Verehrer in unser Landhaus, wir beide und mein Vater. Ich bin nicht zärtlich, ich habe solche Angst, dass mein Vater uns beim Zärtlichsein sieht. Mein Freund Forrest schläft oben. Ich gehe pinkeln, er lauerte schon auf mich, er gibt mir ein Schlafmittel und zieht mich in sein Bett , um mich zu entspannen, ich bin so nervös. Ich weiß nicht, ob er mich vergewaltigt hat, Er hat mich vergewaltigt, während ich schlief, es ist sechzehn Jahre her, und ich sage es.
    Als Manon Jahre später auf dieses Thema zu sprechen kam, erzählte ihr Lucile, Georges habe sie gezwungen, sich auf den Rand seines Bettes zu setzen, und habe dann angefangen, sie zu streicheln. Sie sei vor Angst ohnmächtig geworden. Von einem Schlafmittel war nicht mehr die Rede. Und das ist bis auf geringe Abweichungen auch die Version, die sie 1984 aufschreibt, als ihr Psychoanalytiker, der sie seit Monaten behandelt und ihr Schweigen nicht durchbrechen kann, sie bittet, ein Tagebuch zu führen:
    Samstag, 29 .  12 .  1984 . Heute hat mir mein Vater eine runde Armbanduhr geschenkt, sie soll die Tätowierung an meinem Handgelenk, die ihm nicht gefällt, verdecken. Ich mag meine Tätowierung, sie ist ein Teil von mir. Zehn nach zehn, die Uhrzeit, zu der ich in ihrem Schlafzimmer aufgewacht bin, nachdem ich eine Nacht mit ihm verbracht hatte und er mich vielleicht vergewaltigt hatte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich große Angst hatte und ohnmächtig geworden bin. An diesem Tag hatte ich die größte Angst meines Lebens.
    Lucile hat diese auf das Handgelenk tätowierte runde Uhr bis an ihr Lebensende behalten. Zehn nach zehn, der Augenblick des Aufwachens, die Zeit, auf die die Armbanduhren in den Schaufenstern der Schmuckgeschäfte gestellt sind.
     
    Und wenn im Lauf jener Nacht nichts geschehen ist? Wenn es nur die Angst gegeben haben sollte, diese riesige Angst, und die Bewusstlosigkeit danach?
     
    Manchmal kommt mir ein anderer Gedanke und verfolgt mich:
    Und wenn Lucile, unfähig es zu sagen oder aufzuschreiben, mit einem noch größeren Tabu zu kämpfen hatte, dem Zustand ihres Bewusstseins? Und wenn Lucile nicht ohnmächtig geworden ist, sondern nur gelähmt war vor Angst, und wenn Georges seine Macht und seinen Einfluss missbraucht hat, um sie seinem Begehren gefügig zu machen, um sie zum Nachgeben zu überreden? Und wenn Lucile genauso wie Camille nicht wusste, wie sie nein sagen sollte und konnte?
    Dann hätte die Scham danach ihr Gift eingeträufelt und jedes Sprechen darüber, außer in verhüllter und verzerrter Form, verhindert. Dann hätte die Scham der Verzweiflung und dem Abscheu den Weg bereitet.
     
    Ich lese noch einmal, mit welchen Worten Christine Angot in
Inzest
beschreibt, wie ihr Vater die Macht missbrauchte, die er über sie hatte: »Es tut mir leid, Ihnen das alles erzählen zu müssen, ich würde Ihnen so gerne etwas anderes erzählen können. Aber genau das ist es, warum ich verrückt geworden bin. Ich bin mir sicher, es liegt genau daran, dass ich verrückt geworden bin.« [4]
     
    Wir werden es nie wissen. Wir haben alle

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