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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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sich zu Hassgefühlen gegenüber diesem Mann, der ihre Jugend zerstört und ihr für lange Zeit die Fähigkeit zum Glück genommen hat.
Dieser Mann, der sich darauf hätte beschränken können, ein wunderbarer Vater zu sein.
     
    An einem anderen Tag traf ich mich, ebenfalls als Vorbereitung für dieses Buch, mit Camille. Camille ist Gabriels jüngste Schwester, und sie war eine der besten Freundinnen meiner Mutter, als sie beide um die zwanzig waren. Ich wollte, dass sie mir von Lucile erzählte, von ihren ersten Gefühlsverwirrungen, ich wollte wissen, wie Lucile als junges Mädchen war, wie sie lachte, wie sie tanzte, wie sie sich die Zukunft vorstellte. Ich hoffte, Camille würde mir helfen, die strahlende, funkelnde Lucile aus der Fernsehdokumentation wiederzufinden, ich wünschte mir eine sorglose, unbekümmerte Lucile.
    Keine Sekunde lang hatte ich mir vorgestellt, was Camille mir erzählen würde, und dennoch kam es sehr rasch, in einer Andeutung, als ich sie bat, mir von Lucile, von Georges und von der Familie Poirier zu erzählen. Ein unvollendet in der Luft hängender Satz, ein Signal, das ich nicht verpasste. Camille zögerte: Es sei nicht mein Thema, wir hätten auch so schon genug leiden müssen, sie sei nicht sicher, ob sie
das
ansprechen dürfe. Ich bestand darauf.
    Camille erzählte mir nicht von den Beziehungen zwischen Lucile und Georges, sondern von denen, die sie selbst zu ihm gehabt hatte. Bei einer der allerersten Begegnungen mit Georges war sie sechzehn. Er sollte sie mit in die Ferien nach Alicante nehmen, wohin Liane, ihre Kinder und auch Gabriel bereits vorausgefahren waren. Die Poiriers hatten Camille nach Spanien eingeladen. Ihr Vater war im Jahr zuvor verstorben, ihre Mutter war alt, also dachte man, es werde ihr guttun, an bessere Luft zu kommen, mit jungen Leuten zusammen zu sein und Spaß zu haben. Einige Tage darauf saß Camille im Wagen von Georges, den sie kaum kannte. Auf dem Weg machten sie einen ersten Halt, um einen Vetter von Lucile abzuholen, und dann noch einen, bei Freunden von Georges, um ein bisschen zu schlafen. Sie lagen dann alle drei im selben Bett, der Vetter, Camille und Georges, der sich gebieterisch den Platz in der Mitte vorbehielt. In der Nacht schmiegte sich Georges an sie und begann sie zu streicheln. Camille war wie gelähmt und sagte nichts. In Spanien hielt sie sich von ihm fern, bis sie eine akute Blinddarmentzündung bekam und sofort nach Frankreich zurückgebracht wurde.
    Monatelang verlangte Georges von Camille, dass sie ihn anrief und sich mit ihm an verschiedenen Orten traf. Er war verrückt nach ihr. Er vereinbarte Rendezvous mit ihr, denen sie sich entzog, gab ihr Codenamen, damit sie ihn in der Agentur anrief, und Adressen, wo sie sich treffen sollten. Je mehr sie ihm auswich, desto einschüchternder wurde er. Sollte sie sich seinen Wünschen nicht fügen, werde er ihrer Mutter erzählen, wie sie sich in jener Nacht an ihn gepresst habe, wie sie es angestellt habe, sein Begehren zu wecken und ihn zu bezirzen.
    Camille wusste nichts über Sex, und ihr graute bei dem Gedanken, ihre Familie könne so Schreckliches über sie hören. Zumal ihre Mutter sie ganz im Gegenteil drängte, sich Liane und Georges gegenüber für deren großzügige Einladungen dankbar zu erweisen und auch Georges’ immer wieder ausgesprochene Einladungen anzunehmen. Die Zeit verging, und Georges ließ nicht locker, nie versäumte er eine Gelegenheit, sie an das zu erinnern, was sie ihm schuldete.
    Schließlich erreichte er sein Ziel. Zunächst an einem Abend, nach einem Abendessen, das er durchgesetzt hatte, dann an einem ganzen Wochenende in Pierremont, wo er ihr eine regelrechte Falle gestellt hatte, um mit ihr allein zu sein. Von seinen Drohungen in Panik versetzt, gab Camille nach. Von diesen beiden Tagen, die sie (unter dem Vorwand, die Nachbarn dürften sie nicht sehen) eingeschlossen unter Georges’ Herrschaft verbrachte und an denen sie sich seinen erotischen Spielen und
Bestrafungen
fügen musste, hat Camille eine schamvolle, schmerzliche und lange Zeit uneingestandene Erinnerung behalten. Im Schuljahr darauf ging sie an ein College in England, um Georges zu entkommen. Sie hatte jahrelang Schuldgefühle.
     
    Nach Frankreich zurückgekehrt, heiratete Camille und bekam Kinder – trotz der Spuren, die Georges auf ihrem Körper zurückgelassen hatte, und trotz der Schuldgefühle, die sie nie verlassen haben.
    Nach der Scheidung von Lucile und Gabriel verloren sich

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