Das Lächeln meiner Mutter
Lucile und Camille aus den Augen. Auch Camille wurde geschieden und heiratete einige Jahre später noch einmal.
Bei Luciles Trauerfeier war sie da.
Ich erzählte Camille von Luciles Text und von ihrer Kehrtwende danach. Davon, wie wir uns darauf geeinigt hatten, dass es eine Wahnvorstellung im Zusammenhang mit ihrer Krankheit gewesen sei, aber auch von dem Zweifel, der für mich noch bestand und unbeantwortet blieb. Camille war bestürzt. Sie sagte, sie habe oft das Gefühl gehabt, dass Lucile sich vor ihrem Vater schütze, dass sie es vermieden habe, mit ihm allein zu sein.
Sie haben nie darüber gesprochen. An einem Wochenende, als Camille mit Lucile und Gabriel in Pierremont war, kam Georges mitten in der Nacht nackt in Camilles Zimmer. Doch als er Gabriel, der ihn sicher hatte eintreten sehen, im Gang hörte, bekam er Angst. Später, auf der Rückfahrt, stellte Lucile Camille Fragen nach Georges, was er mitten in der Nacht gemacht, was er gewollt habe. Lucile war angespannt und aggressiv, Camille sagte nichts.
Wenn sie gesprochen hätte, wenn sie beide gesprochen hätten, ob ihr Leben dann anders verlaufen wäre?
Nach ihrem Besuch schrieb mir Camille, wie sehr unser Gespräch sie erleichtert habe. Nach all den Jahren fühle sie sich weniger schuldig.
Während meiner Recherchen erzählte mir Manon von einer Szene, die sie mir schon einmal beschrieben hatte, die ich jedoch verdrängt hatte. Als sie in den Ferien in La Grande-Motte war, wollte Georges ihr aus einem Grund, den sie inzwischen vergessen hat, einen Badeanzug schenken. Und Manon entschied sich in jener Zeit, als eigentlich »oben ohne« angesagt war, für einen weißen, doppelt gearbeiteten und eher sportlichen Einteiler. Als sie sich für das Geschenk bedankte, trat Georges zu ihr, streichelte ihr die Schulter und sagte:
»Wenn du sehr lieb bist, kannst du noch mehr Geschenke bekommen.«
Manon war sechzehn, Georges’ Zweideutigkeit war ihr nicht entgangen. Sie vertraute sich Lisbeths Kindern an, und einer unserer Vettern konnte es sich nicht verkneifen, die vertrauliche Mitteilung an Liane weiterzureichen. Diese ermahnte Manon in ungewohnt eisigem Ton:
»Es ist nicht recht, dass Sie solche Dinge über Ihren Großvater erzählen.«
Lucile bewahrte ihre sämtliche Post auf. Nach ihrem Tod fanden wir in ihren Kartons die meisten der Briefe ihres Vaters. Manon hatte sie mit den übrigen Schriften und Papieren mit nach Hause genommen. Als ich mit diesem Buch begann, bat ich sie darum. Manon hatte sie gelesen, es stehe nichts drin, warnte sie mich, jedenfalls nichts Besonderes. Georges schrieb Lucile von Zeit zu Zeit, um sie auf dem Laufenden zu halten, weiter nichts. Als ich sie nach dem Datum sortierte, fiel mir etwas Seltsames auf: Im Sommer 78 (einige Monate bevor Lucile ihren Text schrieb) hatte ihr Georges in weniger als drei Wochen acht Briefe geschickt. Traditionsgemäß ist Liane zu dieser Zeit auf ihrer
Julitour
(einer Art Rundreise durch die Familie und den Freundeskreis), während Georges allein in den Süden fährt, wohin ihm meine Großmutter nachreist, um den August mit ihm zu verbringen. Ich war elektrisiert von dem Gedanken, dort einen Hinweis, ein Detail zu finden, das den Augen meiner Schwester entgangen sein konnte, und las die Briefe mit äußerster Aufmerksamkeit. Doch diese Briefe verraten nichts. Georges’ Worten zufolge hat Lucile Schwierigkeiten an ihrer Arbeitsstelle und macht sich Sorgen um ihre Gesundheit. Georges rät ihr, einen Hämatologen aufzusuchen und sich auszuruhen, er drängt sie, zu ihm in den Süden zu kommen, hofft eine Weile, sie könne sich für das Wochenende am 14 . Juli frei machen, erinnert sie daran, dass er gegebenenfalls die Fahrtkosten übernehmen würde, und drängt dann, als der 14 . Juli vorüber ist, sie solle im August kommen.
Zwei Monate nach Milos Tod, der mit keinem Wort erwähnt wird, macht sich Georges Sorgen um Lucile. Wahrscheinlich hat er Angst um sie, und weiter nichts.
An dem Tag, an dem wir bei Violette im Keller waren und nach Georges’ auf Kassetten gesprochenen Memoiren suchten, geriet Violette, als ich ihr meinen Wunsch mitteilte, das Material mit nach Hause zu nehmen, in schreckliche Wut. Es war eine zitternde, fiebrige, schrille Wut, mit der sie sagte, nein, das wolle sie nicht, sie werde mir diese Kassetten ganz bestimmt nicht anvertrauen, wenn ich sie gegen ihren Vater verwenden wolle. In meiner Ratlosigkeit sagte ich ihr, dass ich nichts weiter
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