Das Lächeln meiner Mutter
Schule gehen konnte. Georges hatte aus Tom diesen spaßigen Jungen gemacht, bei dem keine einzige Nervenzelle ungenutzt geblieben war. Ich glaube, Tom war der größte Erfolg seines Vaters.
In Pierremont waren die Mahlzeiten zugleich Hauptbeschäftigung und Hauptgesprächsthema: was man tags zuvor gegessen hatte, was man am folgenden Tag essen würde, was man, nach welchem Rezept, ein andermal essen würde. Übrigens war man auch den ganzen Tag in der Küche, plante, bereitete vor, machte Ordnung, räumte die Spülmaschine ein oder aus, verfertigte Tartes und Kuchen, Saucen, Cremes, Süßspeisen, geriet in Verzückung angesichts der dreizehn oder fünfzehn Eissorten, die Liane selbst herstellte, trank schnell einen Tee, Kaffee, Aperitif, Kräutertee, man knetete, rührte, ließ sanft köcheln, sprach über diesen und jenen, die Schule, Krankheiten, Heiraten, Geburten, Scheidungen, Jobverluste, man verkündete kategorisch Wahrheiten, korrigierte sich dann, debattierte, stieß sich mit dem Ellbogen an und schimpfte über die Art, wie die Meeresfrüchte-Blätterteigpastetchen zubereitet werden sollten.
In Pierremont stiegen die Stimmen immer wieder in schrille Höhen, Türen flogen zu, und wenn man gerade fast handgreiflich werden wollte, klingelte der apfelförmige Eierwecker und erinnerte uns daran, dass wir schleunigst das Gratin aus dem Ofen holen mussten.
Neben uns auf einem Hocker saß Lucile, eine stumme Insel im kulinarischen Getriebe, hatte zu nichts eine Meinung und war manchmal bereit, ein paar Kartoffeln zu schälen.
Ich möchte dieses Haus beschreiben können, das ich so sehr geliebt habe, die unzähligen Fotos von uns, aus allen Altersstufen und Zeiten, die in wildem Durcheinander direkt auf die Wand des Treppenhauses geklebt waren, das Poster von Tom, wie er neben Wasserski-Champion Patrice Martin steht und den Handisport-Pokal, den er gerade auf der Meisterschaft gewonnen hat, in die Höhe hält, das Poster von Liane, die im Alter von fünfundsiebzig Jahren vor dem Hintergrund der von ihrem Slalom aufgewühlten Gischt auf einem Monoski steht, die Sammlung von Barbara-Cartland-Romanen für Lianes (viele) schlaflose Nächte, Georges’ in der Diele untergebrachte Glockensammlung, die umfangreiche Küchenausstattung meiner Großmutter, die alles, was in den vergangenen fünfzig Jahren an Küchengeräten und -maschinen erfunden worden war, besaß und aufbewahrte.
Ich möchte dieses überall undichte Haus, diese ständige Baustelle beschreiben können, diese cholerische, müde Dame, die nichts, keine Malerarbeit, keine Ausbesserung, keine Renovierung, keine der im Laufe der Jahre so oft und manchmal unter großen Mühen durchgeführten Arbeiten je zufriedenstellen konnte. So wie ich es kannte, mit der abblätternden Farbe und den Spinnweben, war das Haus in Pierremont eine herrliche, von Rheumaanfällen geplagte Ruine, in der es heftig zog und in der regelmäßig Lastwagen steckenblieben. Denn die Hauptbesonderheit dieses Gebäudes war seine Lage an der Verlängerung einer Route nationale, einer wichtigen Verkehrsachse. Und so geschah es mehrere Male und mitten in der Nacht, dass ein unaufmerksamer oder ermüdeter Fahrer von der T-Kurve überrascht wurde und sich unter schrillem Bremsenkreischen einen großen Ein- und Auftritt verschaffte. Später ließ die Gemeinde Betonkübel vor dem Eingang aufstellen.
Als wir Kinder waren, schliefen wir in Pierremont mit den anderen Kindern im sogenannten
Vierbettzimmer,
in dem mindestens sechs Betten standen und in das bei größerem Andrang auch acht passten. Wenn die Laster vorüberfuhren, zitterten und schepperten die Fensterscheiben, und wir sahen das durch die waagrechten Leisten der Fensterläden fallende blendende Scheinwerferlicht an der Decke tanzen.
[home]
I m Sommer fuhren Liane und Georges in ein etwa zwanzig Kilometer von La Grande-Motte entferntes kleines Dorf im Département Gard. Georges und sein Neffe Patrick hatten einige Jahre zuvor eine Scheune gekauft und sie so umgebaut, dass möglichst viele Leute hineinpassten. Mangels finanzieller Mittel wurde das ursprüngliche Hotel-Restaurant-Projekt fallengelassen, und Georges hatte seine Anteile in einer klammen Phase an seinen Neffen verkaufen müssen, so dass dieser nun alleiniger Eigentümer war. Nichtsdestotrotz blieb die gesamte Familie Poirier für den ganzen August eingeladen, den wir mehrmals gemeinsam mit Patricks Familie dort verbrachten. Im Laufe der Wochen schauten Onkel,
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