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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Plastikbecher ihre sieben Zahnbürsten. Liane hatte für jeden Wochentag eine Zahnbürste: montags blau, dienstags rot, mittwochs gelb, alles in einer genauen und präzise eingehaltenen Abfolge. Liane fand, dass Zahnbürsten ein Recht auf Ruhepausen hätten. Sechs Tage zwischen dem jeweiligen Gebrauch, das ermöglichte eine wirkliche Erholung der Borsten und sicherte jeder Zahnbürste die verdiente Langlebigkeit (bei dieser Gelegenheit möchte ich das zwar anders geartete, aber für mich gleichermaßen faszinierende System von Spanngummis mit Clips erwähnen, das sich Liane ausgedacht und unter ihrer Matratze angebracht hatte, damit das Laken völlig glatt gespannt wurde. Die Gummibänder an den Ecken der Spannbetttücher genügten ihr nicht. Liane konnte Falten nicht ertragen.)
    Im Badezimmer in Pierremont konnte man sich dank der Widerspiegelungen zwischen dem Spiegelschrank über dem Waschbecken und dem riesigen Wandspiegel auch von hinten sehen. Ich verbrachte dort einiges an Zeit, um, je nach Alter, mein Haar oder die Form meines Pos zu betrachten.
    Im blauen Badezimmer in Pierremont nahmen wir nach einer endlosen Partie
Trivial Pursuit
grüppchenweise unsere abendlichen Waschungen vor. Lucile war schon seit langem schlafen gegangen, also verbrachte ich diese vertrauten Augenblicke mit Violette, Justine oder Lisbeth. Wir tauschten Kosmetikartikel aus, diskutierten die Marken, klauten uns gegenseitig Watte-Shampoo-Seife-Wattestäbchen-Mandelöl-Feuchtigkeitscreme-Rosenwasser-hmm-das-duftet-aber.
    Im Badezimmer in Pierremont sprach man genau wie in der gelben Küche über seine vergangenen Lieben, über die Verehrer und Bewerber, über die Zeit, die wie der Kummer verging, den Spaziergang, den man vielleicht am nächsten Tag am Kanal machen würde, über die Stimmung von Georges, der immer schwieriger wurde, das neue Wollschlafanzug-Modell, das sich Liane gestrickt hatte, die anstehenden Geburtstage und Ferien, die frischen Eier, die man auf dem Bauernhof kaufen, und die Lammkeule, die man gleich morgens aus der Gefriertruhe holen würde.
    Im blauen Badezimmer in Pierremont erklärte mir Violette eines Winterabends mit größter Ernsthaftigkeit ihre eigene Vorstellung von der bestmöglichen Erhaltung einer Zahnbürste. Anders als ihre Mutter praktizierte und befürwortete sie nicht etwa eine Vervielfachung dieses Instruments. Sie empfahl vielmehr ein einziges Exemplar von guter Qualität. Ihr zufolge hing die Erhaltung der Borsten vor allem von einer gewissenhaften Trocknung, möglichst mit einem weichspülergepflegten Handtuch, ab.
    Im blauen Badezimmer in Pierremont stellte man, weil wir so viele waren, seine Kulturtasche irgendwo ab, auf einem freien Stückchen Regal oder auf dem Boden. Und was immer geschah, man wusste, dass man sie nicht an derselben Stelle wiederfinden würde, es kam sogar vor, dass man sie, jedenfalls im Badezimmer, gar nicht wiederfand. Denn das blaue Badezimmer in Pierremont war das Reich von Tom, Luciles jüngstem Bruder, dessen Rituale unumstößlich waren. Tom duschte und badete sich mehrmals am Tag, zu ganz bestimmten Zeiten, die er auf einem Zettel auf der Flurseite der Tür angegeben hatte. Tom hatte eine wahre Leidenschaft für Kosmetika entwickelt, für Aftershaves, Seifen und Duschgels, die in immer neuen Varianten, mit den vielfältigsten Düften und Männlichkeitsversprechen, auf den Markt kamen, und Tom richtete sich sein Reich nach seinen Vorstellungen ein. Das war allen bekannt: Man durfte ihm nicht im Weg sein.
     
    Tom hatte lesen und schreiben gelernt, er konnte zählen, addieren, Witze erzählen und kannte die Schauspieler sämtlicher amerikanischer Fernsehserien und die der Theatersendung
Au théâtre ce soir.
Tom liebte Inspektor Columbo, Michel Sardou, Ric Hochet, und er war überglücklich, wenn seine Geschwister kamen. Er hielt peinlichste Ordnung in seinem Zimmer, verfolgte die Fußballspiele der Spitzenliga, war leidenschaftlicher Anhänger der Mannschaft von Auxerre und schrieb nach den Meisterschaftsspielen die Ergebnisse sämtlicher Mannschaften auf große weiße Bögen. Genauso hielt er alle möglichen Informationen fest und legte sie dann in Pappmappen ab. Tom mochte zwar geistig behindert sein, aber in seiner Familie galt er als eine Art Intellektueller, dessen Humor, Nachahmungsgabe und Assoziationen uns nach wie vor verblüfften.
    Georges hatte sich stundenlang mit ihm beschäftigt, jede seiner Entwicklungsstufen begleitet und dafür gekämpft, dass er zur

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