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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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saßen zu zweit, zu dritt oder zu viert im Wagen, verdrossen und mit dem von Georges angeordneten verstockten Gesichtsausdruck. Dann stellte Georges den Kassettenrekorder an, und zwar in voller Lautstärke. Wir mussten steinerne Ruhe bewahren, kein Lächeln, kein Zucken der Augenbraue. Düster. So als wäre nichts, warteten wir auf die Reaktionen in den umstehenden Autos, denen wir schließlich unseren trübsinnigen Blick zuwandten, während die Lach-Kakophonie in unserem Wagen anschwoll. Wegen der Hitze waren die meisten Wagenfenster offen. Wenn sie die Quelle dieser lärmenden Heiterkeit entdeckt hatten, beobachteten unsere Nachbarn uns, streckten die Köpfe vor, sahen sich verblüfft an und brachen dann im Allgemeinen selbst in Lachen aus. Manchmal hastete einer von ihnen unter allgemeinem Gehupe (inzwischen war die Ampel wieder grün) zu unserem Wagen und fragte, welchen Radiosender wir hörten.
     
    Abends, wenn wir alle wieder im Haus in Gallargues waren, blies Georges zum Aperitif und zur allgemeinen Zusammenkunft. Wir feierten die nautischen Großtaten des Tages mit dem Sekt des lokalen Herstellers Listel, unterhielten uns über die Abgereisten und die, die bald kommen sollten, verteilten die Zimmer neu und plauderten.
     
    Ich habe auch dieses Haus geliebt, die vielen Leute, den Lärm, die sengende Sonne, die Abendspaziergänge durch die engen Gassen von Gallargues, die Feste und Tanzveranstaltungen in den umliegenden Dörfern.
    Dennoch vergaßen wir über all dem Lachen und Streiten, den lautstarken Auseinandersetzungen und verrückten Szenen (zum Beispiel als Georges im Beisein von dreißig Personen gewaltsam einen von irgendjemandem eingeladenen Vertreter der Käsefirma
Le Petit
vor die Tür setzte, weil dieser so unklug gewesen war, die Vorzüge des pasteurisierten Camemberts zu rühmen), in all diesen lärmenden gemeinsamen Sommern nie Luciles An-Abwesenheit, ihre Art, sich mitten im Trubel aufzuhalten, ohne je an etwas teilzunehmen.
     
    Dem Aufruhr ringsum setzte Lucile ihr Schweigen der Vernichtung entgegen.
     
    Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kommt mir eine Erinnerung, die noch heute bitter für mich ist.
    Lucile, die allein in ihrer kleinen Wohnung in Paris wohnte, hatte schließlich doch einen Fernseher gekauft. Jeden Mittwoch sah sie die Fernsehserie
Dallas,
die damals auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit war. Sie verpasste keine Folge und machte auch keinen Hehl daraus.
    Wenn die Familie zusammen war, war die Erwähnung von
Dallas
in Luciles Gegenwart zum Familienwitz, zum running gag geworden. Wenn man nämlich Lucile zum Lächeln bringen wollte – genau wie man bei einem Tier einen wie auch immer eingeübten Pawlowschen Reflex ausgelöst hätte –, brauchte man nur das Einleitungslied [5] zu singen. Und alle, meine Vettern, meine Tanten, sogar Georges, sangen im Chor:
Dallas, ton univers impitoyable, glorifie la loi du plus fort, Dallas, et sous ton soleil implacable, tu ne redoutes que la mort.
    Und Lucile, die Maurice Blanchot und Georges Bataille gelesen hatte, Lucile, die so selten lächelte, lächelte dann ein breites, sogar belustigtes Lächeln und zerriss mir das Herz.
    Dann träumte ich in blinder Wut davon, auf ihnen herumzutrampeln und sie niederzuschlagen, ich hasste sie alle, denn dann kam mir der Gedanke, sie seien schuld an dem, was aus ihr geworden war, und sie lachten auch noch hemmungslos darüber.

[home]
    D er Nebel, in den Lucile eingetaucht war, hielt sich fast zehn Jahre.
    Im Verlauf dieser Jahre gab sie ihr Geschäft in der Rue Francis-de-Pressensé (in das sich außer einigen Freunden und zwei oder drei Neugierigen kaum jemand gewagt hatte) auf und fand Arbeit als Sekretärin in einem Schulbuchverlag. Ich glaube, aber ich bin mir nicht sicher, dass eine junge Frau, die sie in diesem Viertel kennengelernt hatte, sie bei Armand Colin empfohlen hatte. Ihre Arbeit bestand im Wesentlichen aus Maschineschreiben und einigen Verwaltungstätigkeiten. Lucile machte ihre Sache nicht schlecht, nach der Probezeit bekam sie einen festen Vertrag. Arbeiten, ob nun dort oder anderswo, wurde für sie wie das übrige Leben zu einer Prüfung, und am Ende eines jeden Wochenendes schnürte ihr der Gedanke an die vor ihr liegende Woche, die ihr unüberwindlich schien, vor Angst die Luft ab.
     
    Ich glaube, als Lucile aus dieser Phase heraus war, waren diese zehn Jahre im Rückblick für sie wie ein einziger Block ohne Einschnitt und Relief, an dem sie die einzelnen Zeiträume nicht

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