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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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unterscheiden konnte, ein einziger Block, von dem ihr nur eine schmerzvolle, steife, gleichmäßig undurchsichtige Erinnerung geblieben war, obwohl sie in diesen zehn Jahren zwei weitere manische Episoden durchlebte.
     
    Die erste nach meinem Abitur, als ich gerade nach Paris zurückgekehrt und mit ihr in die kleine Zweizimmerwohnung in der Rue des Entrepreneurs gezogen war. Lucile hatte ihre Matratze und ihre Paletten im Wohnzimmer untergebracht, und ich schlief in einem der beiden schmalen Betten in dem Schlafzimmer, das ich an jedem zweiten Wochenende mit Manon teilte, die noch in der Normandie lebte. Ich war gerade in die Hypokhâgne, die Vorbereitungsklasse für die Aufnahmeprüfung der Eliteuniversitäten, gekommen, begann mich mit dem Studentenleben anzufreunden und fiel wieder in den Pariser Lebensrhythmus. Lucile lebte ihr monotones, regelmäßiges Leben, das ihre innere Unordnung schlecht verbarg, und schreckte manchmal, wenn sie über einen Satz oder einen verrückten Einfall stolperte, aus ihrer Benommenheit. Nach und nach mehrten sich die Anzeichen für einen Rückfall, die ich bald als solche erkannte. Lucile wurde geschäftig, sie fing an, neue Kochgeräte zu kaufen (darunter einen SEB -Schnellkochtopf), sprach von in Aussicht stehenden Lohnerhöhungen, deren Ausmaß übertrieben wirkte, und von einer Sonderprämie, die es uns ermöglichen würde, mit Manon und Tom in den Weihnachtsferien nach Djerba zu fahren. Unter den verschiedensten Vorwänden kam und ging Lucile immer häufiger, sie schmiedete alle möglichen Pläne, und eines Abends kam sie nicht nach Hause. Ich wartete bis spät in die Nacht, schließlich tauchte sie auf mit diesem Blick, der aus so weiter Ferne kam, und erzählte mir von einem verrückten Abend bei Immanuel Kant und von ihrer ersten, aber sicher nicht letzten Begegnung mit Claude Monet, denn der sei sehr charmant und sie seien sich gleich sympathisch gewesen. Ich rief Luciles Schwestern an. Justine griff sofort ein und informierte mit äußerster Vorsicht Luciles Arbeitgeber. Dort hatte man sich schon über ihre plötzliche Unruhe gewundert und darüber, dass sie auf den Gängen Geld an die armen Leute verteilt hatte, die auch nicht ärmer waren als sie.
    In kurzer Zeit wurde etwas organisiert, das Lucile in einen der Pavillons der Klinik Saint-Anne brachte, wo sie mehrere Wochen blieb.
     
    Bei den Besuchen, die ich ihr dort, am Rand der Stadt und zugleich in ihrem Herzen (denn Saint-Anne ist wirklich eine Stadt in der Stadt), bald machen durfte, entdeckte ich eine Form von Elend und Verwahrlosung, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte.
    Anlässlich einer Lektüre hatte ich mich einmal nach der genauen Bedeutung des Wortes
déréliction
gefragt und es nachgeschlagen. Es bedeutet ein äußerstes Verlassen- und Isoliertsein. Hier hatte ich die Illustration. Hier schleppten sich Frauen und Männer durch die überheizten Gänge, verbrachten ganze Tage vor einem schlecht eingestellten Fernseher, wiegten sich auf Stühlen oder flüchteten sich unter Decken, die sich kaum von den Decken in Gefängniszellen unterschieden. Einige waren schon seit Jahren da, ohne Aussicht auf ein anderswo, weil sie für sich oder für andere eine Gefahr darstellten, weil es keinen anderen Ort gab, an den man sie hätte bringen können, weil ihre Familie sie schon seit langem aufgegeben hatte.
    Wenn ich von diesen Besuchen heimgekehrt war, beschrieb ich, noch von diesen Eindrücken und der Atmosphäre verfolgt, die klappernden Schlüsselbunde, die über die Korridore irrenden Patienten, den Lärm der Transistorradios, diese Frau, die immer wieder
Mein Gott, warum hast du mich verlassen
sagte, den Mann, der jeden, der ihm ins Gesichtsfeld geriet, bis zu zehnmal hintereinander um eine Zigarette bat, die mechanischen, wie ausgerenkten Körper, das von Untätigkeit und Langeweile schlaff gewordene Fleisch, die starren Blicke, die schleppenden Schritte, diese Menschen, die dort nicht herauszukönnen schienen und die von den Medikamenten daran gehindert wurden zu schreien.
    Nach einigen Tagen hatte Lucile den ganzen Pavillon kennengelernt und wollte ihn mir bei jedem meiner Besuche unbedingt vorstellen. Madame R., Monsieur V., Nadine, Hélène, Madame G., eine regelrechte Runde durch die Gemeinde, die gewöhnlich bei der hochgewachsenen, schwarz gekleideten Frau endete, die mich geistesabwesend ansah und Lucile immer wieder, als wäre es eine Verfluchung, sagte:
Sie ist schön, Ihre Tochter.
Luciles

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