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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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träumte, ich würde eingeschlossen.
     
    Dennoch schicke ich allen möglichen Menschen ebenso drängende wie überraschende Mails und frage nach Namen, Daten, Präzisierungen, kurzum, ich gehe allen auf die Nerven.

[home]
    L ucile hatte sich zurückgezogen, weit weg von uns und von allem. Sie war nur noch Statistin in einem Film, dessen Drehbuch ihr mit jedem Tag mehr zu entfallen schien, sie stand irgendwo am Set, sie hörte nicht, dass man sie bat, wieder in die Mitte zu kommen oder sich im Gegenteil zu entfernen, sie fing das Licht nicht mehr auf, und das war ihr schnuppe, sie suchte nach einem Ort, wo sie völlig unbemerkt mit offenen Augen dösen konnte, ohne dass es aussah, als sei sie abwesend oder habe aufgegeben.
    Auch François Mitterrand konnte daran nichts ändern.
     
    Im Jahr 1982 eröffnete Lucile, die immer noch nicht wieder Arbeit gefunden hatte, mit einer Freundin von Justine einen verrückten Trödelladen in der Rue Francis-de-Pressensé, nur wenige Schritte vom Kino
L’Entrepôt
entfernt. In einem kleinen Geschäftsraum ohne besondere Merkmale trugen sie Nippes, Lampen, Dosen, Karaffen, unterschiedlichste Gegenstände und einige Kosmetika zusammen, die ohne erkennbare Verbindung nebeneinander ausgestellt wurden. Jeder hatte gegeben, was er hatte, man hatte die Schränke, Keller und Speicher geleert, um einen minimalen Warenbestand zusammenzubringen. Das fast leere Geschäft war an allen Tagen außer sonntags geöffnet. Lucile und Noémie wechselten sich in einem regelmäßigen Rhythmus ab, der nur selten vom Eintreten eines Kunden gestört wurde. Manchmal öffnete ein von Abenteuerlust und Neugier getriebener Passant die Tür zu dieser unsäglichen
Pochette Surprise.
Ganz in der Nähe hatte Justine einige Monate zuvor das
Bateau de Plaisance
eröffnet, halb Bar, halb Restaurant, dessen von Justine selbst gekochtes Tagesgericht bald Furore machte. Lucile langweilte sich nach Kräften in ihrem Laden, wurde von den Schnapsnasen des Viertels besucht und lebte ihr verlangsamtes, unsicheres Leben weiter, das sich zweimal im Monat mit unserem Leben überschnitt.
     
    Für die Dauer eines Wochenendes füllte Lucile den Kühlschrank mit unseren Lieblingslebensmitteln und gab uns ein wenig Geld für einen Kinobesuch oder eine Waffel. Lucile sah uns beim Leben, beim Reden und Lachen mit unseren Freundinnen zu, sie lauschte zerstreut unseren belanglosen Geschichten, sie hörte uns zu, wie wir telefonierten, uns verabredeten, Unternehmungen planten, Lucile sah uns zu, wie wir unsere Mathematikübungen und Französischaufgaben machten, sie stellte uns keine Fragen, sie verlangte nichts von uns, Lucile urteilte nicht über uns, sie gab keine Kommentare zu unseren Kindereien beziehungsweise Teenager-Dummheiten ab, sie beobachtete uns aus der Ferne.
    Wir waren lebendige Wesen, das konnte sie spüren, das Leben in uns hatte standgehalten.
    Für die Dauer eines Wochenendes mobilisierte sie ihre ganze Person, um uns gewachsen zu sein.
    Manchmal erinnerte uns ein Aufleuchten in ihrem Blick, ein flüchtiges Mienenspiel, ein Lächeln daran, was für eine Frau sie gewesen war.
     
    Weihnachten, Ostern und an den Brückentagen im Zusammenhang mit Christi Himmelfahrt, Pfingsten und Allerheiligen fuhren wir weiterhin nach Pierremont, wo sich unsere Familie im Allgemeinen außerordentlich vollzählig versammelte, mit allen Onkeln, Tanten, Brüdern, Schwestern, Vettern und Kusinen, zu denen sich immer noch irgendein(e) blässliche(r), depressive(r) oder blutarme(r) Freund(in) gesellte.
    Liane und Georges haben die Lust an großen Tischrunden nie verloren. Wenn es für fünfzehn reichte, reichte es auch für zwanzig.
    Wir fuhren mit Lucile im Zug bis zum Bahnhof von Laroche-Migennes, wo uns Liane in ihrem alten R 4 , den sie wie seine Vorgänger bis zum Auseinanderfallen fahren würde, abholte. Ich saß vorn, weil Lucile im Auto Angst hatte. Man hob besser die Füße: Das Bodenblech war durchgerostet, unter meinen Füßen lief die Straße dahin.
     
    Im blauen Badezimmer in Pierremont beobachtete ich Liane und ihr immer gleiches Ritual nach dem Duschen, die Massage mit dem Luffahandschuh, die Nivea-Creme, die sie in einer dicken Schicht auf den Körper auftrug, dann erster BH , zweiter BH , erster Schlüpfer, zweiter Schlüpfer, Hüfthalter, Body, Hemdhöschen und schließlich das Unterkleid, das sie darüberzog (ich übertreibe nicht), in diesem Haus ist es lausekalt, meine kleine Königin. Auf dem Bord thronten in einem

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