Das Land der lebenden Toten
und begann sie zu würgen.
»Nein, nein, nein!« brummte Picasso. »Tölpel! Metzger! Sabartes, sorg dafür, daß dieser Blödsinn ein Ende hat! Was treibt der denn? Reitet auf dem Stier? Erwürgt den Stier?« Tränen der Wut trübten ihm die Augen. Seine erste Corrida seit unendlich langer Zeit, wer weiß, seit wann, und sie war von Beginn an eine gräßliche Scheußlichkeit gewesen und nun verwandelte sie sich zu einem irren Chaos! Er war aufgesprungen, auf seinen Sitz gestiegen und brüllte: »Metzelei! Wahnsinn! Eine Schande! Eine Schande!«
Enkidu steckte in Schwierigkeiten. Er ritt auf dem Stier und hatte zunächst auch recht kühn zu kämpfen begonnen, doch jetzt wallte die Wut des Tieres wieder hoch und seine Kräfte spannten sich mehr und mehr, und in der nächsten Sekunde konnte sich die Bestie zu Boden wälzen und ihn mit ihrer Masse erdrücken, oder sie konnte ihn abschütteln und mit den Hufen zertrampeln. Enkidu war in großer und unmittelbarer Gefahr. Und das erkannte Gilgamesch, und nichts sonst zählte für ihn. Nachdem er ihn endlich wiedergefunden hatte, sollte er ihn so schnell wieder verlieren, bei einem aberwitzigen Stierkampf – nein, das durfte nicht geschehen!
Es war wieder wie damals in jenem anderen Leben, als der Himmelsstier wild durch das alte Uruk raste, und Enkidu hatte das Tier bestiegen und sein Gehörn gepackt und es zu Boden zu ringen versucht. Damals waren ihrer beider Kräfte nötig gewesen, den Stier zu töten. Und hier würde es wieder so sein.
Gilgamesch griff nach seinem Schwert. Herodes sah es und faßte ihn am Arm und jammerte: »Nein! Gilgamesch, geh nicht da hin!« Aber dieser schob ihn weg und kletterte über die Logenbrüstung. Enkidu, der sich nun nur noch mühsam auf dem tobenden bockenden Ungetüm halten konnte, grinste ihm entgegen.
Das ganze Stadion schien wahnsinnig zu werden.
Die Leute waren aufgesprungen, viele brüllten, andere schubsten und drängten sich nur einfach durcheinander vor Erregung. Da und dort brachen Faustkämpfe aus. Dumuzi war aufgestanden, seine Augen rollten wild, das Gesicht war blau angelaufen, er fuchtelte heftig mit den Armen. Gilgamesch warf einen raschen Blick in die Höhe und sah kämpfende Gestalten auf der obersten Galerie. Dumuzis Scharfschützen und Vy-otins Männer? Und noch weiter oben kreiste ein Schwarm von Flugdämonen im Himmel, gräßliche Bestien mit weit aufgerissenen Schnäbeln und langen glitzernden Flügeln.
Der Stier warf sich von einer Seite zur anderen, um Enkidu abzuschütteln. Gilgamesch stürzte vorwärts und bekam eine Ladung vom schaumigen Schweiß des Stiers mitten ins Gesicht. Es ätzte wie Säure. Er zog das Schwert, aber der Stier wich außer Reichweite und bäumte sich so gewaltig, daß er Enkidu beinahe abgeworfen hätte.
Aber der ließ sich nicht die geringste Furcht anmerken. Er hielt sich, seine Schenkel umklammerten den Nacken des Stieres, knapp vor den Rückenwirbelzacken, und er umklammerte die teuflischen Hörner mit festem Griff. Und mit seiner ganzen großen Stärke rang er, um den Stierschädel nach unten zu drücken.
»Stoß zu, Bruder, stoß zu!« rief Enkidu.
Doch es war noch zu früh. Der Stier hatte noch gewaltige Kampfreserven. Er schoß wild umher und im Kreis, und die scharfe Schuppenhaut seiner Flanke streifte Gilgameschs Rippen, so daß er zu bluten begann. Der Stier sprang und bockte, wieder und wieder, hämmerte die Hufe in den Boden. Und Enkidu taumelte obenauf wie eine Fahne im Sturm. Er schien fast den Halt zu verlieren, dann rief er laut mit seiner stärksten selbstsicheren Stimme und saß wieder obenauf und schwankte hoch über dem messerscharfen Rücken der Bestie. Er packte die Hörner erneut und drehte dem Tier den Kopf herum, und der Stier gab nach, wurde schwächer, senkte das Haupt zur Seite, so daß der Nacken Gilgamesch zugewandt war.
»Stoß zu!« rief Enkidu wieder.
Und diesmal stieß Gilgamesch die Klinge hinein.
Er fühlte ein Beben, ein Schaudern, eine heftige Bewegung im Körper des Tieres. Es wehrte sich sichtlich lange gegen den Tod, doch der Stoß hatte genau gesessen, und plötzlich knickten die Beine ein. Gilgamesch reichte Enkidu die Hand, und dieser sprang von dem Tier und stand neben ihm.
»Ach, Bruder«, sagte Enkidu. »Ganz wie in den alten Tagen, nicht?«
Gilgamesch nickte. Er blickte nach oben. Auf sämtlichen Rängen tobten die Zuschauer jetzt. Verblüfft sah er, daß Dumuzi aus der Königsloge in die von Picasso geklettert war. Als
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