Das Land der lebenden Toten
und dieser Enkidu. Und Gilgamesch war wie ein Kind in seiner Erregtheit. Er schlug Enkidu so kräftig auf den Rücken, daß es einen Drachen zu Boden gestreckt hätte, und dann zog er ihn hinüber und stellte ihn Ninsun vor, und Enkidu fiel wie anbetend vor ihr auf die Knie und küßte den Saum ihres Kleides, und dann wies Gilgamesch mit dem Kinn zu Dumuzis Loge, und die beiden Männer brachen in ein Lachen aus. »Und dies«, sagte dann Gilgamesch, »ist der Maler Picasso der ein gewaltiges Genie ist. Er malt wie ein Dämon. Vielleicht ist er auch ein Dämon. Aber er ist ein sehr großer Mann. Das heute ist sein Stierkampf.«
»Der kleine Mann? Er wird mit Stieren kämpfen?«
»Nein, er wird zuschauen«, sagte Gilgamesch. »Das liebt er mehr als alles andere, glaube ich, außer zu malen, dabei zu sein, wie sie mit den Stieren kämpfen. So, wie sie das in seiner Heimat taten.«
»Aber morgen«, sagte Picasso, »werde ich dich malen, Wilder Mann. Aber das ist morgen. Jetzt kommen erst die Stiere.« Und aus dem Mundwinkel fragte er Sabartes: »Also? Wann fangen die endlich an?«
»Ja, wahrhaftig, Don Pablo. Sofort. Jetzt, jetzt!« Es erfolgte ein grelles Trompetenschmettern. Und dann begann die große Einmarschparade: Die Cuadrillas kamen, angeführt von zwei Alguaciles zu Pferd und in augenbetörenden Kostümen. Alle durchquerten die weite Arena, die Banderilleros, die Picadores auf Dämonenpferden, die beinahe so aussahen wie die Pferde in der anderen Welt, nur daß sie hier rotglitzernde Augen und steife eidechsenhafte Schweife hatten. Und dann kam endlich der Matador, dieser Blasco y Velez, dieser Spanier aus den Tagen des Vierten Karls.
Er hat alles recht gut organisiert, der Sabartes, dachte Picasso. Es sah alles so aus, wie es sich gehört. Die Leute, das Staffagepersonal, bewegten sich mit Würde und Eleganz. Sie begriffen, was für ein grandioses Ereignis dies war. Auch der Matador sah vielversprechend aus. Er besaß Allüre. War zwar um die Leibesmitte etwas fülliger, als Picasso gehofft hatte – vielleicht war er ein bißchen außer Form geraten, oder vielleicht war der Stil unter dem Vierten Carlos ja anders und die Matadores waren da nicht ganz so schlank –, aber sein Kostüm stimmte, die hautengen Seidenhosen, die reichbestickte Jacke und die Seidenweste mit Gold- und Silberstickerei, die Kopfbedeckung, der Umhang, das spitzenbesetzte leinene Vorhemd.
Der Zug hielt vor den zwei Ehrenlogen. Der Matador salutierte vor dem König, dann vor Picasso, der an diesem Tag das Präsidium für den Stierkampf innehatte. Der König, der den plötzlich erschienenen Enkidu angestarrt hatte, als wäre dieser irgendein Spukdämon, der sich plötzlich in Picassos Loge materialisiert hatte, und dessen Gesicht nun verkniffen war und wie giftige Galle aussah, erwiderte die Ehrbezeigung mit einer beiläufigen Handbewegung, deren würdelose Unhöflichkeit Picasso in Wut versetzte. Er knirschte zwischen den Zähnen: »Puerco! Hijo de puta!«
Dann stand Picasso auf. Als Präsident der Corrida hielt er die Schlüssel zu den Ställen der Stiere in Händen. Und mit großer Geste warf er sie zu einem der Alguaciles hinab, der sie geschickt auffing und hinüberritt, um den ersten Stier in die Arena zu lassen.
»Also fangen wir an«, sagte Picasso leise zu Sabartes. »Alfin! Endlich geht es los!«
Er fühlte, wie er sich in jenen unverletzbaren Kokon von Konzentriertheit verschloß, der ihn stets bei der Corrida umgab. Gleich würde er das Gefühl haben, daß er ganz allein sei im Stadion.
Der Stier kam herangaloppiert.
Madre de dios! Was für eine Scheußlichkeit! Das war kein Stier, es war ein Ungeheuer!
Sabartes hatte ihm zwar gesagt, was er zu erwarten hatte, aber anscheinend war ihm das nie so ganz klar geworden. Das Her hätte aus einem seiner Bilder entsprungen sein können. Es besaß sechs Beine mit mehreren Gelenken wie ein Rieseninsekt, eine Doppelreihe schrecklicher Rückenwirbel, aus denen eine üble Flüssigkeit abgesondert wurde, und große Schlappohren. Die Haut war grün, mit purpurnen Flecken, und dick wie bei einem Reptil. Es hatte Hörner, kurz, gekrümmt, scharf, denen eines Stiers recht ähnlich, aber davon abgesehen, war es eine echte Ausgeburt der Hölle.
Picasso warf Sabartes einen Giftblick zu. »Was hast du da angerichtet? Sowas nennst du einen Stier?«
»Wir sind hier in der Nachwelt, Pablo«, sagte Sabartes schleppend. »Sie schicken keine Stiere in die Nachwelt, nur Menschen. Aber der da
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