Das Land der lebenden Toten
einige Mühe, die Waffe sinken ließ und seine bebende steife Hand entspannte, starrte Lovecraft, die Augen mit der Hand gegen den geisterhaften Glast der geschwollenen roten Sonne schirmend, lange auf die feindlichen Krieger. Dann wandte er sich um und suchte im Fond des Wagens herum und brachte schließlich den braunen Umschlag zutage, in dem sich ihre Ernennungsurkunde von King Henry befand.
Und dann… aber was tat er denn?
Lovecraft trat mit hocherhobenen Armen aus der Deckung und schwenkte das Portefeuille durch die Luft und ging auf die Feinde zu?
»Die bringen dich um, H. P.! Runter, geh in Deckung!«
Ohne sich umzudrehen, bedeutete Lovecraft mit einer scharfen Geste, Howard solle den Mund halten, und schritt weiter stetig auf die Reiter in der Ferne zu. Sie schieben ebenso erstaunt wie Howard. Sie saßen bewegungslos, die Bogen gespannt, ein Dutzend Pfeile auf Lovecrafts Körpermitte gerichtet.
Jetzt ist er ganz durchgedreht, dachte Howard bestürzt. Aber eigentlich war er ja nie so ganz ausgeglichen, nicht wahr? Hat immer halb das Zeug geglaubt, das er über die Alten Götter und über Schleusen zwischen den Dimensionen und gotteslästerliche Riten in den dunklen Hügeln Neu-Englands schrieb. Und jetzt, bei der ganzen Schießerei – die Aufregung…
»Laßt eure Waffen sinken, ihr alle!« rief Lovecraft mit einer erstaunlich lauten und gebieterischen Stimme. »Im Namen des Priesters Johannes gebiete ich euch Einhalt! Senkt die Waffen! Wir sind nicht eure Feinde! Wir sind Abgesandte an euren Herrscher!«
Howard blieb die Luft weg. Er begann zu begreifen. Nein, Lovecraft war nicht wahnsinnig geworden!
Er betrachtete sich das lange Kriegsbanner erneut. Ja, natürlich, natürlich! Diese Wirbel und Schnörkel auf der Fahne: Das waren die Wappen des Priesterkönigs Johannes! Und diese blutrünstigen Reiter mußten zur Grenztruppe eben jenes Landes gehören, zu dessen Herrscher sie schon so lange unterwegs waren. Howard fühlte sich beschämt; er begriff, daß Lovecraft mitten in dem tobenden Kampf genug Vernunft gezeigt und sich die Zeit genommen hatte, sich das Banner genauer anzusehen und zu entziffern – und den Mut besessen hatte, vorzutreten und die diplomatische Legitimation hochzuhalten. Er hatte nun die Pergamentrolle mit ihrer Akkreditierung in der Hand und zeigte mit der anderen auf das schmale rote Band und das Sigill König Heinrichs.
Die Reiter spähten herüber, sie berieten sich untereinander und senkten die Bogen. Auch Gilgamesch ließ seinen Großbogen sinken und blickte erstaunt drein. »Seht ihr dies?« rief Lovecraft. »Wir sind Herolde von King Henry! Und wir verlangen den Schutz eures Herrn, des Erhabenen Herrschers Yeh-lu Ta-shth!« Mit einem Blick über die Schulter bedeutete er Howard, er solle an seine Seite treten, und nach nur ganz kurzem Zögern sprang der vom Landrover und trabte nach vorn. Ihm war recht unbehaglich dabei, als er sich diesen finsteren gelben Bogenschützen so preisgab. Es war beinahe so, als stünde man am Rand eines riesigen Abgrunds.
Lovecraft lächelte. »Alles wird gutgehen, Bob! Das Banner, das die da entrollten – es trägt die Zeichen des Priesterkönigs Johannes…«
»Ja. Ich erkenne es, ja.«
»Und siehst du? Sie geben das Zeichen für sicheres Geleit. Sie haben verstanden, was ich sagte, Bob! Sie glauben mir!«
Howard nickte. Eine große Erleichterung wallte in ihm hoch, ja sogar so etwas wie Freude. Herzhaft schlug er Lovecraft auf den Rücken. »Gute Arbeit, H. P.! Ich hätte nicht gedacht, daß das in dir steckt!« Und nun, da er seine Scheißangst zu überwinden begann, fühlte er, wie eine geradezu manische Hochstimmung sich seiner bemächtigte. Er winkte den Reitern zu, fuchtelte wild mit den Armen herum. »Holla! Wir sind Königliche Gesandte!« brüllte er. »Sendboten Seiner Britannischen Majestät des Achten Königs Heinrich! Bringt uns vor euren Herrscher!« Dann blickte er zu Gilgamesch hinüber, der mit zusammengezogenen Brauen dastand, den Bogen noch immer schußbereit. »Holla, auch du dort, König von Uruk! Laß auch du die Waffe sinken! Es ist jetzt alles in Ordnung! Man geleitet uns jetzt an den Hof des Priesterkönigs Johannes!«
4
G ILGAMESCH war gar nicht sicher, weshalb er sich bereitgefunden hatte mitzugehen. Ein Besuch am Hof des Priesterkönigs Johannes oder an einem sonstigen Hof interessierte ihn nicht im geringsten. Er wollte nichts weiter, als daß man ihn in Ruhe lasse, damit er durch die Wildnis streifen und
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