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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Hoch-Versailles – mir sind schon die Namen ein Abscheu und Greuel! Nein, Enkidu, für mich heißt es das Outback, die Wildnis. Jetzt und für immer!«
    »Und so ist es auch für mich«, sagte Enkidu. Und sie beschworen es und umarmten einander.
     
     
    Es hätte Gilgamesch sehr gefallen, anderthalb Ewigkeiten und noch eine dazu damit zu verbringen, mit Enkidu als einzigem Gefährten diese wilden abweisenden Landstriche zu durchstreifen. Sie paßten zusammen wie die Hand in den Handschuh, und sie brauchten auch kaum miteinander zu sprechen, weil jeder wußte, was der andere dachte. Vereint weiter zu wandern, Tag um Tag unter der scharfen roten Sonne, gemeinsam gegen die gespenstischen Alptraumgeschöpfe dieser feindseligen Gegend ankämpfend, Auge und Hand und Stärke zu erproben gegen die teuflische Stärke und Hartnäckigkeit der höllischen Wesen, die in den Ödnissen des Outback lauerten – ach, das war die einzige echte Wonne, dachte Gilgamesch. Das einzige im Leben, was wirklich Lust und Erfüllung brachte! Gilgamesch und Enkidu – Enkidu und Gilgamesch – nur sie zwei beide allein, weit fort von den Eitelkeiten und Torheiten und dem fehlgeleiteten Streben der schnatternden Stadtleute!
    Aber es sollte nicht sein.
    So kahl und leer das Land großenteils war, es war nicht gänzlich leer. Kein Teil der Nachwelt konnte noch leer sein, nicht die unter Eis begrabenen Polarregionen, nicht die kochende Zone der Weltmitte, und auch nicht dieses öde versengte Land im Outback; denn es gab hier Milliarden und Abermilliarden Seelen unterzubringen – Seelen, so entschieden die Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, derartige Dinge zu erforschen, von jedem Menschen, der einstmals auf der früheren Erde gelebt hatte. Und obschon die Nachwelt die Dimensionsbegriffe sogar der gescheitesten Geographen überstieg, gab es auch hier kaum einen Winkel, in dem nicht etliche verstreute Siedler hausten oder es doch zumindest wild umherschweifende Nomadenhorden gab. Gilgamesch und Enkidu hatten es recht schwer, als sie kreuz und quer und auf gut Glück durch das Land zogen, ihre einsame Zweisamkeit länger als einige Tage ohne äußere Störungen aufrechtzuerhalten.
    Einmal war es eine klägliche Farm, auf die sie stießen, mit Scheuern und Ställen aus rohen ungestrichenen Brettern und Krähen und Geiern, die auf den krummen Ästen der Bäume dahinter hockten, und ein Grüppchen ausgemergelter graugesichtiger Leute, die gegen den elenden Boden ankämpften. Und ein andermal war es eine Karawane, die sich von da nach dort zwischen den weit entfernt liegenden Siedlungen der weiten Ebene sich dahinschleppte. Und ab und zu war es ein Pilger, allein unterwegs wie sie. Soweit es möglich war, vermieden die beiden Sumerer Begegnungen mit anderen. Manchmal aber war dies nicht möglich, wenn sie nicht unnötig Anlaß zu Feindseligkeit bieten oder sich unnötig in Gefahr bringen wollten; oder aber der einzige Weg führte durch besiedeltes Gebiet. Und manchmal – von Hunger und Durst bedrängt oder dem schlichten Bedürfnis, hin und wieder andere menschliche Stimmen zu hören – entschieden sie sich ganz spontan, ihren Zölibat zu durchbrechen und sich etliche Stunden in der Gesellschaft anderer Menschen zu gönnen, bevor sie weiterzogen.
    Und so kam es, fast gegen ihren Willen, daß sie sich mit diesen Leuten einließen, oder mit jenen, oder jenen, und daß sie bei ihnen am Feuer saßen und Tratsch und Gerüchte mit ihnen austauschten und die Namen der Fürsten und der Völker erfuhren, die es im Outback gab, und von den eitlen Bestrebungen und Süchten und schalen Träumen erfuhren, von denen sie getrieben wurden, von den Kriegen, die hier gekämpft wurden, von den Intrigen, den idiotischen Plänen, dem Irrsinn. Und so lernten die beiden wandernden Sumerer, die länger in den übervölkerten Städten an der östlichen Küste der großen Landmasse gelebt hatten, welche die Nachwelt war, daß sogar hier in dieser wilderen Gegend, dem Outback, die gleichen aberwitzigen Irrsinnsvorstellungen im Schwange waren, die gleichen verrückten Versuche, in diesem Leben die Fehler des anderen zu wiederholen. Und so senkte sich die Überzeugung in ihre Herzen, die Wahrheit: Menschen sind eben Menschen, überall, und es gibt kein Ausweichen vor ihrer Schwachheit und ihrem Schwachsinn, alle sind gleich, überall, gleichgültig, welche Art Kleider sie tragen oder was für eine Sprache sie reden. Es war eine betrübliche Wahrheit, die sie da

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