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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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erfuhren, und Gilgamesch suchte in den nebelhaften Tiefen seiner von Zeitgeschichte überlagerten Erinnerung umher und hatte auf einmal das traurige Gefühl, dies alles nicht zum erstenmal zu erfahren.
    Obwohl sie selten länger als drei Tage in die selbe Richtung zogen, entdeckten sie, daß sie überwiegend westwärts vorangekommen waren und sich nun fast am äußersten Rand des Outback befanden. Dies erfuhren sie in einem Ort namens Vectis Minima, der aus einer Wegkreuzung und einer Raststätte mit fünf Kabinen bestand, über die ein fahläugiger alter Mann wachte, dessen Gesicht zernarbter und kummervoller wirkte als das Antlitz des Mondes. Sie suchten hier Unterschlupf vor einem kalten schwarzen Regen, der in flachen Bahnen über das Land fegte, ohne den Boden zu treffen, der sie aber dennoch bis in die Knochen frieren ließ. Dort fragte Gilgamesch aus einer launigen Neugier, wo sie sich befänden und was vor ihnen liege.
    »Ihr seid hier an die zwölf Tagesreisen von der See entfernt«, unterrichtete sie der alte runzelige Gastwirt.
    »Der See? Welcher See?« Gilgamesch war überrascht.
    »Na, dem Weißen Meer, dem Dämonenmeer. Was sonst? Mit was für einem anderen Meer habt ihr denn gerechnet?«
    »Das mußte ja so kommen«, brummte Gilgamesch. »Wir sind Fremde aus dem Osten.«
    »Aha, dem Osten«, sagte der Wirt. »Dem Vulking-Land, ja? Oder aus Lord Wolframs Domäne?«
    »Nein, noch weiter im Osten«, sagte Gilgamesch. »Tausend Tripelmeilen, vielleicht auch zehntausend. Zuletzt waren wir in Nova Roma zu Hause.«
    »In Nova Roma«, sagte der Alte leise, als hätte Gilgamesch von einem fremden Stern gesprochen. »Ja, dann seid ihr also aus Nova Roma? Aber dann seid ihr weit weg von dort. Seht her!« Und er tunkte die Fingerspitze in den herben grauen Hauswein und zog eine Linie über das splitternde Holz der Tischplatte. »Also, das Meer liegt da, und wir sind hier drüben. Das ist der Weg nach Lo-yang und das da der Weg nach Cabuldidiri. Ihr kennt diese Orte? Nein? Nun, verpaßt habt ihr dabei nicht viel. Und das da führt direkt weiter zur Brasil-Insel, von der ihr sicherlich gehört habt.«
    »Brasil?« sagte Gilgamesch. »Was ist das?«
    »Ich kenne es«, sagte Enkidu plötzlich. »Wenigstens vom Hörensagen. Die berühmte Insel der Weisen und der Magier, nicht wahr?«
    »So ist es. Die Zauberinsel. Die Spukinsel«, sagte der Wirt. »Wo Simon der Magus als König herrscht, und mögen euch alle Dämonen davor bewahren, dem zu begegnen. Nun, und diese Berge hier, das sind die Mottenberge« – er zeichnete sie mit weiteren Weinspuren auf das dürre Holz – »und hinter denen liegen fünf Städte, und sie heißen Torfaeus, Gardilone, Pizigani, Camerata und – also, es gibt da noch eine fünfte Stadt, aber ihr Name fällt mir momentan nicht ein. Und wenn man von hier aus nordwärts geht…«
    »Es reicht«, unterbrach ihn Gilgamesch. »Du sagst mir mehr, als ich wissen möchte.«
    Seine Stimmung war mit jedem Namen düsterer geworden, den der Alte über die Lippen gerollt hatte. Er hatte nicht erwartet, schon so bald ans Ende der Wüste zu gelangen, doch es wurde ihm klar, daß es vielleicht überhaupt nicht ›so bald‹ war, sondern daß er und Enkidu Jahre, vielleicht Jahrhunderte in der Ödnis verbracht hatten, seit sie vom Hof des Priesterkönigs Johannes aufbrachen, während sie doch geglaubt hatten, es seien nur etliche Monate gewesen. Der Ablauf der Zeit war höchst unbestimmt hier. Und nun lag direkt vor ihm eine Küstenregion, die er noch nicht kannte, die aber allem Anschein nach derjenigen recht ähnlich war, die er hinter sich gelassen hatte: weitere Städte, weitere Könige, wieder neue Ränke und wieder die gleiche Torheit. Am besten wäre es wohl kehrtzumachen und wieder ins Kernland zurück zu ziehen. Das hatten sie doch gewiß noch nicht gänzlich durchstreift.
    Doch auch dies sollte nicht sein. Denn sie schlugen die Straße nach Norden ein, zu dem Ort namens Cabuldidiri, denn sie gedachten von dort auf einer passablen Wüstenroute wieder ins Landesinnere zurückkehren. Doch sie waren kaum etliche Meilen weit gekommen, als der Weg sich ärgerlich erneut westwärts zu winden begann, als wollte er ihnen nicht erlauben, Cabuldidiri zu erreichen. Sie konnten in weiter Ferne vor sich ein Tal sehen und eine mittelgroße Stadt, die auf einem Einschnitt zwischen zwei senkrechten Bergflanken lagerte. Dies war gewiß die Stadt Cabuldidiri. Aber die Straße erlaubte ihnen nicht, sie zu erreichen.

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