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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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es nicht sicher?«
    Gilgamesch dachte daran, den zudringlichen kleinen Plagegeist über Bord zu werfen.
    »Vielleicht, vielleicht nicht. Wenn du lange genug hin und her über die Nachwelt gewandert bist, sehen allmählich alle Orte ziemlich gleich aus.«
    »Also, für mich nicht«, sagte Herodes. »Und ich bin auch ganz schön viel herumgewandert. Mehr als mir lieb ist. Ein richtiger Ewiger Jude, das bin ich. Aber Brasil, das ist anders. Ich weiß, ich weiß, Erinnerung ist hier manchmal problematisch, doch wenn du einmal in Brasil gewesen wärest, dann würdest du dich daran erinnern. Es ist unvergeßlich. Du kannst es mir glauben.«
    »Ein ewig wandernder Jude?« sagte Gilgamesch unbestimmt. »Ich glaube, ich habe so eine Geschichte einmal gehört.«
    »Wer hätte nicht? Aber ich bin nicht der ewig wandernde Jude, weißt du? Der heißt Ahasver. Der zockelt immer noch kreuz und quer herum, droben, so wie es damals mit seiner Verfluchung bestimmt war. Muß über die Erde ziehen, bis das Ende der Welt gekommen ist, was anscheinend bisher noch nicht der Fall ist. Nein, ich bin einfach nur ein Jude, der umherwandert. Ein anderer. Und ich heiße Herodes.«
    »Das hast du mir bereits gesagt.« Aufdringlicher kleiner Köter, wahrhaftig, dachte Gilgamesch. Nach seinen impertinenten Manieren allein müßte man ihn für einen der Späten Toten halten. Dennoch strahlte der Mann auch etwas wie eine Aura der Frühen Toten aus. Ein Grenzfall vielleicht. Aus der Zeit, die die Später Toten ungenau als die Periode ›vor Chr.‹, beziehungsweise den Übergang in die Zeit ›nach Chr.‹ bezeichneten. Gilgamesch grub in den etlichen tausend Jahren seiner Erinnerungen. »Einmal bin ich einem Herodes begegnet. Der war so eine Art kleinerer Wüstenfürst, denke ich.«
    »Also eigentlich war er ja König von Judäa.«
    »Wenn du es sagst.«
    »Ein Mann mit feistem Gesicht, kahlem Schädel, blutgeröteten Augen?«
    »Könnte sein. Er sah irgendwie halb verwest aus, so weit kann ich mich noch erinnern. Wie eine Frucht, die man zu lange im Regen hat liegen lassen.«
    »Du meinst Herodes den Großen. Meinen Großvater. Ein höchst ekelhafter Mann, dieser Herodes. Nein, wirklich, ein sehr übler Typ. Zehn Weiber! – daraus allein kannst du schon sehen, wie unsolid er war. Und dazu noch andere Charakterschwächen. Im Grunde ein völlig paranoider Typ. Obwohl, diese ganzen häßlichen blöden Sachen mit Salome und dem Täufer Johannes, dem Tanz der Sieben Schleier und das mit dem silbernen Tablett – das war gar nicht er, mußt du wissen. Das war sein Sohn Herodes Antipas; aber der war genauso verrückt. Und in Wahrheit ist das alles auch überhaupt nicht so passiert. Das mit dem Silbertablett und dem Kopf darauf, das war eine bloße Erfindung, und was diese Salome angeht…«
    »Silbertablett? Salome? Kleiner Mann, wovon schnatterst du denn da?«
    »Andererseits«, fuhr Herodes fort, als hätte Gilgamesch nichts gesagt, »hat mein Großvater tatsächlich die Abschlachtung der Erstgeborenen befohlen, einschließlich seines eigenen Sohnes. Der Mann war verrückt. Es wundert mich nicht, daß du ihn nicht mochtest. Aber er hat sich persönlich mit Augustus ganz hübsch arrangiert. Augustus war immer bereit, Geschäfte mit Verrückten zu machen, wenn er dabei politische Vorteile für sich selber herausspringen sah. Und das dürfte die einzige vernünftige Erklärung dafür sein, wieso mein Großvater sich unter den Römern so lange auf dem Thron halten konnte. Aber wie ich höre, mag Augustus derzeit überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben. Da steckt Cleopatra dahinter. Denn Cleopatra haßt ihn noch immer – der alte Knabe hat sie abfahren lassen, als sie ihm Avancen machte, mochte ihre Nase nicht oder so etwas in der Richtung, aber das muß man sich mal vorstellen, über weiß Gott wie viele Jahrhunderte so einen dummen kleinen Groll mitzuschleppen…«
    »Du summst wie eine Wespe«, murrte Gilgamesch. »Hörst du nie auf zu reden?«
    »Also ja, ich rede gern. Du anscheinend nicht, vermute ich. Der große starke Schweigsame. Bloße Stilvarianten, kein Grund sich deswegen zu ärgern. Oh, also wirklich, da sieh hin – da kommt unser Vesuv wieder!«
    »Wer ist Vesuv?«
    Herodes deutete auf die Inselstadt. »Unser Hausvulkan. Benannt nach dem, den sie damals in der anderen Welt über Pompeji hatten. Unsrer liegt mitten im Zentrum. Hast du je sowas Großartiges gesehen?«
    Gilgamesch blickte über den Sund zu dem fernen Brasil hinüber. Im

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