Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Firmament hing nun ein neues Feuer, ein einzelner hellscharlachroter Lichtpunkt, der durch die trübe rauchgeschwängerte Luft flammte wie eine Fackel, fünfzigmal heller als die Flammen, die aus den Vulkanschloten auf dem Festland züngelten. Wie von einem riesenhaften Blasebalg angefacht, stieg die Flammenfackel höher und höher bis ans Dach des Kosmos. Und die Türme und Wälle der Stadt erstrahlten in der blendenden Helle sinnverwirrend wie leuchtende Spiegel.
    »Aber die Stadt?« fragte Gilgamesch. »Wird sie zerstört werden?«
    Herodes lachte. »So einen Ausbruch wie den gibt es fast jede Woche einmal. Manchmal auch öfter. Die Brasilier möchten das nicht missen. Aber es wird dabei kein Schaden angerichtet. Bloße Lichtspiele und keine Hitze, so lautet die Vertragsklausel. Und nie jemals irgendwelche feste Materieteilchen. Du hast doch von Pompeji gehört, ja? Das gehörte zu Rom. Ich meine, zu dem echten alten Rom, dem Original. Und wir haben eine Menge ehemaliger Pompejaner, die jetzt hier in Brasil leben. Und so wie seinerzeit im neunundsiebziger Jahr Pompeji niedergewalzt worden ist, kann es einen ja nicht sehr erstaunen, daß die Brasilier hier nicht unbedingt scharf sind auf eine Wiederholung. Ich spreche vom Jahr 79 n. Chr. verstehst du? Also nach der Jahresberechnung der Später Toten. Falls dir überhaupt daran liegt, deine Jahre zu berechnen. Jedenfalls war es nach meiner eigenen Zeit, wahrscheinlich auch nach der deinigen. Aber wenn du mit einem sprichst, der damals dabei war und jetzt in Brasil lebt, dann sagt der dir, es war ein absoluter Horror, aber er wird dir ebenfalls sagen, er kann nachts nicht richtig schlafen, wenn nicht in der Nähe ein mittelprächtiger Vulkan vor sich hingrummelt. Verblüffend, wie sich manche Leute nicht nur an Gefahr gewöhnen, sondern geradezu davon abhängig werden, ständig bedroht…«
    Gilgamesch hörte ihm kaum zu. Er starrte in den vom Vulkanfeuer zerfetzten Nachthimmel. Durch die plötzliche glühende Illumination waren Scharen von Ungeheuern und Dämonen der Luft sichtbar geworden. Wesen, die nur Maul waren, ohne Leib; Wesen, die nur kopflose Flügel waren; Wesen, die nichts waren als Krallen und Klauen; Wesen, die aus riesigen gelben, rotgeäderten Augen bestanden, die auf grünen Gasschwaden trieben, und alles wirbelte durcheinander und kreischte hoch über der See. Ajax knurrte und bellte und rannte über das Deck hin und her, sprang wild in die Luft, als wollte er die Ungeheuer angreifen, die sich am Himmel tummelten.
    Herodes lachte. »Simons Schoßtierchen. Ich habe es dir ja gesagt, wenn du Brasil einmal erlebt hast, vergißt du es nie wieder. Wohin du schaust, Dämonen. Und Genies. Zauberer. Magier, Traumdeuter. Wahrsager. Simon sammelt sie, verstehst du? Du kannst keine neun Schritte tun, ohne daß einer von denen versucht, dich mit seinen Tricks umzukrempeln.«
    »Sie mögen es versuchen«, sagte Gilgamesch.
    Er zielte mit einem imaginären Bogen und schoß einen imaginären Pfeil in die Gurgel eines der widerlichsten Ungeheuer in der Höhe.
    »Oh, dich würden sie in Frieden lassen, glaube ich. Ein Mann von deiner Größe, wer würde es wagen, sich mit dem anzulegen? Außerdem siehst du mir so aus, als verfügtest du selbst über ein Quantum magischer Kräfte. Simon hat dich als seinen Leibwächter engagiert, ja?«
    »Ich bin kein Söldner«, erwiderte Gilgamesch scharf.
    »Nein? Du siehst aber aus wie ein Kämpfer.«
    »Ein Kämpfer, das ja. Aber niemals für Geldeslohn. Außer einmal, als ich noch ein Junge war und im Exil. Ich war ein König.«
    »Ach. Ein König! Dann haben wir ja etwas gemeinsam. Ich war nämlich auch König, weißt du.«
    »Wirklich?« fragte Gilgamesch desinteressiert.
    »Ja, so vier, fünf Jahre lang, nachdem Caligula meinen elenden Onkel Antipas endlich aus Judäa verjagt hatte und mir die Herrschaft übergab. Bei meinen Untertanen war ich ziemlich beliebt, wenn es dich nicht stört, daß ich das sage. Ich denke, ich habe meine Arbeit recht gut gemacht, und wenn ich nur ein wenig länger gelebt hätte, ich glaube, es wäre mir gelungen, die Christenbrut auszulöschen, bevor sie richtig in Fahrt kam, und damit hätte ich der ganzen Welt sechs Scheffel voll Ärger erspart, aber…« Herodes brach ab. »Du bist nicht etwa selber zufällig einer von denen, oder? Nein, nein, so siehst du wirklich nicht aus. Aber du sagst, du warst ein König. Wo denn, wenn ich fragen darf? Irgendwo draußen, Richtung Armenien vielleicht?

Weitere Kostenlose Bücher