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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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findest.«
    »Aber…«
    »Geh nur«, wiederholte Enkidu.
    Immer noch zornig sah Gilgamesch zu, wie Enkidu zu der Gruppe trat, die sich um den Wagen abmühte. Enkidu stemmte die Schulter gegen die Seite des Karren und winkte Gilgamesch zu, er solle endlich losziehen; und nachdem er noch einen Augenblick finster zugesehen hatte, nickte der sumerische Held und stapfte davon. Es war eigentlich schon recht spät am Tag für die Jagd. Rasch erklomm er den Hang, indem er sich an den verkrüppelten Stämmen der fast blattlosen Büsche festhielt, die dort wurzelten. Ein weißfelliges Geschöpf, nicht viel größer als eine Ziege kam plötzlich aus der Deckung gestürmt, besah ihn bestürzt und floh in wilden Sprüngen hangaufwärts. Gilgamesch machte sich sofort an die Verfolgung, und er verlor beim Aufstieg keinen Augenblick die flimmernde Weißheit des Tieres aus dem Blick. Das Fleisch würde wahrscheinlich gut schmecken; die Decke würde zweifellos einen wundervollen Umhang ergeben. Und so stieg er weiter und höher und weiter, und dann durch einen Spalt in der Felswand des Canyons und weiter, ohne zu ermüden weiter, hinter dem leuchtenden Weiß her.
    Am Ende hatte er seine Beute verloren. Das verdroß ihn sehr. Aber er stöberte doch tiefer in den Nebencanyon, in den er geraten war, weil er dachte, er würde vielleicht ein ähnliches Tier aufspüren. Aber auch dies erwies sich als ergebnislos, und so mußte er sich mit kleinerem, weniger erfreulichem Wild begnügen. Als die Schatten wuchsen, kehrte Gilgamesch auf seinem Weg zurück, stieg von dem kleinen Seitental zurück in die große Schlucht und begann den Abstieg zu dem Ort, an dem die Karawane gehalten hatte.
    Er konnte den Zug wegen eines Vorsprungs in der Felswand zunächst nicht sehen. Erst als er bis auf halbe Höhe hinabgestiegen war und bevor er die ersten Wagen sah, erblickte er eine schwarze Rauchwolke, die irgendwie nicht wie der Rauch von einem Lagerfeuer aussah. Er rannte hastig an den Rand des Vorsprungs und blickte hinab.
    »Götter!« schrie er.
    Drunten im Tal lagen die Wagen umgekippt und verstreut umher, als hätte die Hand des Beherrschers der Dämonen sie durcheinandergeworfen. Einige Wagen brannten. Alle waren aufgeschlitzt und ausgeraubt worden. Und darum herum verstreut lagen die Kaufleute in ihrem eigenen Blut. Gilgamesch sah van der Heyden, der auf dem Rücken lag und mit glasigen Augen nach oben starrte. In seiner Brust war eine tiefe Wunde. Andere lagen bäuchlings tot da, oder es war ihnen gelungen, unter einen der Wagen zu kriechen. Niemand bewegte sich mehr.
    »Enkidu?« schrie Gilgamesch.
    Er ließ die Jagdbeute fallen und raste in wilden Sprüngen, halb schlitternd zum Talgrund hinab. Aus der Nähe sah die Szene des Gemetzels noch furchtbarer und wüster aus, als er befürchtet hatte. Sie waren alle tot, die Männer, die Weiber, die Kinder, sogar die Zugtiere – alle außer einem großen scheckigen Hund namens Ajax, der wild bellend umherrannte. Und alle waren mit einer Raserei und Wut getötet worden, die sogar dem schlachtengehärteten Gilgamesch Ekel erregten: ein gräßliches Hinschlachten, ein abscheuliches Gemetzel. Die Wagen waren wüst geplündert und zerstört worden.
    Und Enkidu? Wo war Enkidu?
    Das Gefühl, daß er fort sei, dröhnte in Gilgameschs Kopf wie eine schauerliche Glocke.
    Verzweifelt suchte er hinter diesem Wagen und unter diesem, und mit seiner gesammelten gewaltigen Stärke brüllte er den Namen seines Freundes: Aber von Enkidu war nirgendwo etwas zu sehen, nicht von ihm und auch nichts von seinen Waffen. Das war verwirrend. Hatten die Angreifer ihn mit sich fortgeschleppt? So sah es aus – es sei denn, daß Enkidu während des Überfalls gar nicht da war, daß er sich in die Berge aufgemacht hatte, um Gilgamesch zu suchen, und daß sie sich irgendwie verpaßt hatten…
    Nein, in diesem engen Tal war es ausgeschlossen, daß Enkidu Gilgameschs Fährte nicht gefunden und ihr hätte folgen können! Und Gilgameschs widerhallende Rufe – Enkidu hätte sie doch gewiß hören müssen, wie weit er auch gewandert wäre…
    »Enkidu! Enkidu!«
    Gilgamesch rief weiter den Namen seines Freundes, bis ihm die Stimme versagte. Doch es half nichts. Die Nacht kam näher. Sicher würde Enkidu aus den Bergen herabkommen, sobald es dunkel wurde. Sofern er überhaupt dort oben war. Ist er denn schon wieder fort von mir? Tot? In die Sklaverei verschleppt?
    Verwirrt und tief beunruhigt schleifte Gilgamesch die noch rauchenden

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