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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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dunkel. Diese diabolisch zwingenden Augen. Und wie seine ganze Haut zerschlitzt und mit Knoten und Narben verziert ist. Und die vier herausgeschlagenen Zähne, um ihm noch größere Schönheit zu verleihen – und wie er im Finstern leuchtet, dieser Schimmer über ihm…«
    Dieser Schimmer, dachte Gilgamesch bedrückt. Ja, der Glanz des Todes.
    »Ein Ungeheuer, das bestimmt. Ich bin mir nicht so sicher, was die Grandiosität angeht. Der Behaarte Mann spricht die Wahrheit, dein Calandola ist ein unzivilisierter Wilder.«
    »Aber selbstverständlich ist er das«, sagte Herodes sofort. »Das ist ja das Wunderbare an ihm! Er ist ein wundervoller, überwältigender, gräßlicher, erschreckender, häßlicher Wilder! Aber er ist ebenfalls ein Sehender.
    Du solltest nicht ignorieren, daß seine Macht tatsächlich wirksam ist. Du wirst das noch erfahren. Er kann die Dunkelheit für dich öffnen. Er wird mit dir den Ritus der Erkenntnis vollziehen. Und alle deine Fragen werden beantwortet werden.«
    »Ach ja? Wirklich?«
    »Zweifele nicht daran, Gilgamesch. Alles wird dir gesagt, nichts verheimlicht. Und alles Geheime wird aufgedeckt.«
    Gilgamesch dachte darüber nach. Die Dunkelheit öffnen? Durch ein Erkenntnisritual? Ein halbnackter Wilder mit einem Stück Kupferblech in der Nase sollte ihm alle Geheimnisse offenbaren? Schön, schön. Vielleicht, vielleicht. Hier in der Nachwelt war nur eines sicher: Sie war ganz seltsam absolut anders. Was auf der Erde unsichtbar gewesen war, oder doch fast kaum sichtbar, wurde hier deutlich und handgreiflich. Auf der Erde erhaschte man zuweilen einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel auf Dämonen; hier hockten sie sich zum Würfelspiel zu einem an den Tisch, oder sie lagen vor dem Kaminfeuer in den Kneipen und sangen seltsame Lieder. Zauberei fand man überall. Gilgamesch sah keinen Grund, an den übernatürlichen Kräften dieses Calandola zu zweifeln. Und wenn er, um den Weg zu Enkidu zu finden, sich die Haut mit abscheulichem Fett beschmieren mußte, nun gut, dann war ihm auch der Preis nicht zu hoch. Kein Preis war dafür zu hoch.
    Auf der anderen Seite des Hofes erschien nun Simon mit seinem Behaarten Mann. Er winkte.
    »Gilgamesch! Wo hast du gesteckt?«
    Der Sumerer reagierte nur mit einem Achselzucken.
    »Aber du kommst doch zu dem Fest heute abend?« rief Simon herüber.
    »Ein Fest?«
    »Ja. Nach den Spielen! Weiber, Gilgamesch! Wein! Ströme von Wein! Vergiß es nicht!«
    »Nein«, erwiderte Gilgamesch ohne Begeisterung.
    »Natürlich nicht.« Ströme von Wein? Wein bedeutete ihm derzeit überhaupt nichts mehr. Und Weiber auch nicht. Schon lange nicht mehr.
    Das Bild des Jaqqa Imbe Calandola tauchte in seinem Geist auf, wie ein geschwollener Koloß, der ihn überragte, und dann erblickte er bestürzt sich selbst, wie er gegen eine heftige Strömung anzuschwimmen versuchte, eine Flut nicht von Wein, sondern von Blut.
     
     
    »Nimm das«, befahl Calandola. »Trink!«
    Zum zweiten Mal und wieder geführt von dem aufgeregt-ängstlichen Herodes Agrippa, war Gilgamesch in die Stollengründe unterhalb von Brasil gestiegen. Zum zweiten Mal waren sie in die von Fackeln beleuchtete Höhlenkammer vorgedrungen, in der Imbe Calandola und seine Jaqqa-Gemeinde hausten. Und wieder hatte der schwarze Zaubererkönig Gilgamesch den süßlichen Wein dargeboten und ihm den Leib mit diesem Öl von so scheußlicher Herkunft gesalbt.
    Und nun sollte ein weiteres, noch dunkleres Ritual beginnen. Es waren mehr Menschen anwesend als beim erstenmal. Anscheinend auch mehr Jaqqa, eine ganze dunkle Schar, dreißig, vierzig, vielleicht noch mehr, stelzten wie langbeinige Kobolde durch die rauchige Düsternis der Höhlenwinkel und vollzogen Dinge, die nicht einmal Gilgamesch mit seinen scharfen Augen erkennen konnte. Aber da waren auch acht, zehn oder zwölf Gestalten in der weißen Kleidung Brasils, Männer und Weiber, die mitten im Raum, die auf den Knien lagen wie Zeremonialdiener, wie Eingeweihte. Manche waren mit schwarzen Stoffbinden maskiert, andere trugen das Gesicht frei. Genau wie Herodes wirkten sie unsicher, die bleichen Gesichter waren schweißbedeckt, die Augen zuckten unablässig her und hin. Während des Trank- und Salbungs-Rituals sahen sie oft höchst gespannt zu Gilgamesch her, manchmal auch mit einem merkwürdigen Ausdruck wie von Abscheu und Furcht, oder vielleicht auch von Mitleid und Bekümmerung; er vermochte es nicht zu sagen. Es hätte sogar Neid sein können. Neid? Weshalb

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