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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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schüttelte sich; die Schalenschenkin ergriff das Gefäß, bevor es ihm aus den Händen fiel; Herodes wich zurück, und in seinen Augen war nun der gleiche glasige Ausdruck wie vorher bei Ajax, dann fiel er wieder devot auf die Knie.
    Gilgamesch wartete diesmal, ob es noch weitere ›Hunde‹ zu bedienen gäbe. Nein, endlich war es an ihm, den Königswein zu kosten.
    Der Mann goß aus der krummhalsigen Karaffe ein. Die Frau brachte die Schale auf dem Kissen zu Gilgamesch.
    »Nimm und trink«, sagte Calandola.
    Gilgamesch hob die Schale mit beiden Händen. Das Gefäß war glatt und kühl wie Elfenbein feinster Art, doch die Unterseite fühlte sich irgendwie unregelmäßig an. Während er in den Trank schaute, ließ er die Finger um die Schale tasten und begriff, was er da in den Händen hielt: unzweifelhaft eine menschliche Schädeldecke, und die Knochen unterhalb der Augenhöhlen waren weggeschnitten. Na ja, denn also, dachte Gilgamesch. Hier trinkt man aus einem polierten Schädel. Wieso auch nicht? Er begann das Prinzip zu begreifen, das hinter dem Theater Calandolas steckte. Eine Schädeldecke eignet sich vorzüglich als Trinkschale. Warum denn auch nicht?
    Der Wein war dunkel, nicht honigfarben wie beim ersten Mal, und hatte einen rötlichen Schimmer. Er trank vorsichtig. Die Flüssigkeit war überwältigend süß, so süß wie der süßeste Nektar, vielleicht sogar noch stärker. Sie lag merkwürdig auf der Zunge, ein schwerer dickflüssiger Wein. Er schluckte und trank einen zweiten Schluck, und plötzlich wußte er, woher die Süße und die rötliche Färbung kamen. Der königliche Wein des Imbe Calandola war mit Blut gemacht. Bei dieser Erkenntnis fürchtete er, sein Magen würde sich dagegen auflehnen und ihn auswürgen. Doch nein. Nein, er glitt ziemlich glatt die Kehle hinab. Er trank weiter.
    Und er trank, bis die Schale geleert war, blickte auf, lächelte und reichte sie der Schenkin zurück.
    Dann wartete er.
    Dies war die ›Öffnung‹. Die vor der ›Erkenntnis‹ kommt.
    Schön. Aber wieso geschah nichts weiter? Weshalb hatte er nicht wie Ajax oder wie Herodes glasige Augen bekommen? Und weshalb schwankte er nicht, war nicht benommen? War er gegen Calandolas scheußlichen Wein gefeit und immun? War er so tief hinter den Mauern seines Wesens vergraben, daß es für ihn keine Öffnung geben konnte?
    Er blickte zu Calandola. »Ich fühle nichts«, sagte er. »Vielleicht wenn ich noch eine Schale voll, Lord Calandola…«
    Calandola lachte – ein merkwürdiges langgezogenes Gelächter, dünn und wie aus weiter Ferne, und es rieselte auf Gilgamesch nieder wie fallendes Wasser. Eine andere Antwort erfolgte nicht.
    Dann erklang eine summende Stimme irgendwo von links: »Ssschade, ssschade, du gehst in die Irre, Weltenwanderer Gilgamesch! Nicht weiterer Wein ist dir vonnöten! Die Mauern sind gestürzt! Die Öffnung ist vor dir!«
    »Was? Wie?«
    »Sieh mich in meiner Offenbarung! Und was du schaust, ist mein früheres Selbst.«
    Gilgamesch blieb der Mund offen stehen. Ajax war verschwunden und an seiner Stelle schwebte ein bizarres Wesen auf halber Höhe zwischen dem Boden und Gilgameschs Schulter. Es war irgendwie wespenhaft, aber größer als irgendein Insekt, das er je gesehen hatte, und bedeckt von einer schimmernden blauen Kruste, fast wie aus edlen Steinen. Aus dem Hinterteil ragte ein scharfer grüner Stachel, und das kleine Gesicht war das Gesicht einer Menschenfrau. Sirrend und flügelschlagend schwebte das Tier neben ihm.
    »Siehst du?« sirrte das Wespenweib. »In der Öffnung wird vieles sichtbar! In meinem letzten Leben war ich dies, nun, in der Nachwelt kam ich als der Hund Ajax zurück.«
    »Deinem letzten Leben…«
    »Als ein Insekt, ja. Obwohl ich zuvor ein Mensch von Fleisch und Blut war, genau wie du. Doch ich gab mich der Sünde hin, und hinabzusteigen war ich gezwungen. Zur Strafe wurde ich in ein Insekt verwandelt, und gewaltig litt ich. Doch dann zu späterer Zeit erhielt ich die Vergünstigung, ein Hund werden zu dürfen. Verstehst du? Es geht die Stufenleiter hinab und dann, manchmal, wieder hinauf. Ich habe noch immer Hoffnungen, über den Hund hinaus aufzusteigen. Ich steige weiter, werde mehr sein als ein Hund. Obwohl Hund gar nicht so schlecht ist. Wer einmal Insekt war, für den ist Hundsein schon sehr erstrebenswert.«
    Aha. So war das also. Gilgamesch begriff. Sein Hund Ajax war also eines jener unglücklichen Geschöpfe, deren Schicksal es war, von einem Körper in den

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