Das Land der lebenden Toten
anderen, von einer Gestalt in die andere zu wandern bei dem nie endenden Aufenthalt in der Nachwelt. Also bewirkte Calandolas Wein doch irgend etwas, wenn er ihn befähigte, derlei Dinge zu erkennen. Doch, er war sich nun sicher, eine Öffnung war sozusagen erreicht worden, und er nahm Dinge wahr, die außerhalb der gewöhnlichen Begriffe lagen.
»Nein, wirklich, Hund ist gut«, summte das Wespenweib weiter. »Es ist schön, den König Gilgamesch als Herrn zu haben. Ich folge und gehorche dem mächtigen Helden Gilgamesch, und eines Tages wird er sich meiner erbarmen und mir wieder den Körper eines Weibes geben. Oder vielleicht auch den eines Mannes. Was macht das schon für einen Unterschied, ob weiblich oder männlich, wenn es menschlich ist? Ein Mensch würde ich gern wieder sein, und wer wollte das nicht?«
Lächelnd sagte Gilgamesch: »Wenn ich das tun kann, so will ich es tun.«
Und sogleich war die Wespe wieder der Hund Ajax, lag auf dem Bauch und schnüffelte an seinen Füßen.
Gilgamesch bückte sich und streichelte das Tier liebevoll. Dann wandte er sich Herodes zu.
»Und was ist mit dir?« fragte er. »Du Wespe in menschlicher Gestalt, wie zeigst du dich jetzt?«
Doch Calandolas Trunk hatte bei Herodes keinerlei äußere Veränderungen hervorgerufen. Herodes war immer noch Herodes, der kleine Wuschelkopf mit den huschenden Augen, und er trug eine zerknautschte weiße Toga und kniete demütig fast auf der anderen Seite des Raumes. Und dennoch war etwas nun anders. Der Herodes, den Gilgamesch während seiner paar Tage in Brasil kennenlernte, war voller Geschwätz und Tricks gewesen, mit einem blitzschnellen springenden Verstand, und immer ein ganzes Netz von Worten um sich herumgesponnen, um mögliche größere und dümmere Gegner und Feinde in Schach zu halten. Ein Schutzmechanismus, der ihm während seiner Jahrhunderte in der Nachwelt recht nützlich gewesen war; doch nun schien der ›königliche Wein‹ des Jaqqa-Herrschers ihm seine ganze Attitüde genommen zu haben.
Herodes hatte völlig die Kontrolle verloren, war ein furchtsamer, ängstlicher Mann, der seine Todesjahre genau so verbrachte wie seine Lebenszeit, auf der Suche nach einem Herrn und Meister. Einst war es der römische Kaiser Caligula gewesen, der kurzfristig aus ihm einen König machte. Und später – viel später und hier in der Nachwelt – war es eben Simon der Zauberer. Und nun war es dieses monströse Geschöpf der Finsternis, Calandola. Als nächster Herr konnte sehr wohl Gilgamesch in Frage kommen. Oder Lenin, oder Mao Tse-tung, der Priester Johannes – oder sonst einer aus der Horde von Kaisern, Fürsten, Halbgöttern und Kriegshelden, die sich hier in der Nachwelt in irgendeinem Winkel als Herrscher etabliert hatten. Herodes lechzte nach einem Herrn. Wahrscheinlich würde er viel glücklicher in der Inkarnation eines Hündchens sein. Wenn doch nur irgendwie Ajax und er ihren Leib austauschen könnten! Man sehe sich ihn nur an, wie er dahockt, halb in sich verkrochen! Wünscht sich wahrscheinlich einen Schwanz, um damit zu wedeln. Wünscht sich feuchte braune Augen, die er hingebungsvoll auf seinen Herrn fixieren könnte, statt der gescheiten schwarzen Knopfaugen, die er jetzt hat.
Gilgamesch spürte, wie Verachtung gegenüber diesem Herodes, diesem kläglichen und höchst unköniglichen König in ihm hochwallte.
Aber seine Verachtung schmolz dahin und machte einem tiefen Mitgefühl Platz, das ihn unerwartet heftig überkam, und er fühlte sich durcheinander und unsicher. Wie konnte er Sympathie hegen für den Hund, der eine Wespe gewesen war und sich danach sehnte, wieder menschlich zu werden, nicht aber für diesen Menschen, der mit der Seele eines Hundes umherlief? Herodes verächtlich zu finden, weil er kein Held war, das war an sich eigentlich ebenfalls verächtlich. Es gab keinen Mangel an Helden in der Nachwelt. Zu Tausenden und Zehntausenden stampften sie herum und käuten noch als Tote die Heldentaten wieder. Und wenn Herodes – der arme kleine Herodes – eben keine größere Lust in seinem Leben finden konnte als in knallenden Vulkanausbrüchen oder in den barbarischen Blutritualen eines obskuren Alptraumhaften Wilden, nun gut, dann war das eben so, und war so, weil er der war, der er war. Er hatte ja keine Wahl. Niemand hatte eine Wahl. Der Ratschluß der Götter bestimmte alles.
Du, Gilgamesch, du willst ein Superheld vor allen Helden sein, ein gottähnlicher Mann, ein König der Könige. Und es soll dein
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