Das Land des letzten Orakels
wie lange es dauern würde, das Meer zu überqueren, und Honorius hatte sich das Navigieren lediglich aus den Aufzeichnungen des schon lange verstorbenen Kapitäns aneignen können. Es war ein riskantes Unternehmen. Doch Mark vermutete, dass für Lily darin schon der halbe Reiz lag.
Was die andere Hälfte anging, so hörte Mark Laud bereits ihren Kapitän über die Docks hinter der Kathedrale hinweg anschreien.
»Also, ich kann ja verstehen, warum du mit Laud eine Seereise unternehmen möchtest …«, sagte Mark verschmitzt. »Aber nun mal im Ernst … auch Ben mitzunehmen? Stört sie euch denn nicht?«
Lily schlug zum Spaß nach ihm. »Wir würden eher in der Klemme stecken, wenn wir ohne sie aufbrechen würden. Es ist ja nicht so, als würden uns noch jede Menge anderer agoranischer Diplomaten begleiten – und ich würde behaupten, dass Ben zu den besten zählt. Außerdem glaube ich«, fügte sie ein wenig verlegen hinzu, »dass sie schon eher von Laud und mir wusste als wir selbst.«
Mark nickte. In den letzten Monaten hatte er selbst weniger von Laud und Lily zu sehen bekommen, als ihm lieb war. Aber man musste nur wenige Minuten in ihrer Gesellschaft verbringen, um es zu spüren. Es war keine offenkundige Leidenschaft; sie hielten einander nicht ständig an der Hand oder schauten sich lang und schmachtend in die Augen. Aber immer wenn sie zusammen waren, waren sie auf eine Art und Weise entspannt, wie Mark es noch nie gesehen hatte. Es war, als spielte die Welt um sie herum mit all ihren Fehlern nicht mehr wirklich eine Rolle.
»Außerdem versteht sie sich gut mit Honorius«, fuhr Lily fort, hastig das Thema wechselnd, »und wir müssen ihn bei Laune halten. Es war schon schwer genug, ihn dazu zu bewegen, seine Patienten zu verlassen, auch wenn es nur für ein paar Monate sein wird. Ich habe ihm gesagt, dass sich Owain und Freya gut um sie kümmern werden, aber …« Lilys Beschwingtheit ebbte ein wenig ab. »Honorius bemuttert seine Patienten wie seine Kinder.«
Mark hütete sich davor, das Thema Familie anzuschneiden. Lilys Vater war mittlerweile in der Gruft der Kathedrale begraben worden. Verity nahm an der Reise nicht teil; obwohl Lily und sie darüber gesprochen hatten, hatte sie beschlossen, zu Hause zu bleiben. Sie war die Sekretärin des neuen Direktors, und Mark vermutete, dass sie bald noch mehr sein würde. Und was Lilys Mutter anging …
Beim letzten Besuch des Dirigenten, dem diplomatischen Vertreter Narus, hatte er das ehemalige Orakel nach Agora mitgebracht. Lily hatte versucht mit ihr zu reden, doch sie hatte innerlich völlig abgeschaltet. Elespeth hatte vorgeschlagen, sie eine Zeitlang in der Obhut des Zirkels der Schatten leben zu lassen und ihr so dabei zu helfen, wieder in Einklang mit ihrer verletzten Gefühlswelt zu kommen. Ihnen blieb nur die Hoffnung.
Mark legte Lily eine Hand auf ihre Schulter, und sie hob die ihre, um sie zu berühren. Eine Zeitlang sagte keiner der beiden etwas; sie schauten zu, wie sich die Wellen im Licht des ersten Morgengrauens kräuselten. Sie waren beide in dicke gisethische Jacken gehüllt, benötigten sie aber eigentlich gar nicht, denn der Frühlingsmorgen war ruhig und angenehm. Der Winter war sogar so mild gewesen, dass man kaum glauben konnte, dass seit dem Tag des Urteils bereits sechs Monate vergangen waren.
Lily riss sich als Erste aus ihren Gedankengängen. »Wie dem auch sei, genug davon«, sagte sie entschlossen. »Hast du es mitgebracht?«
»Cherubina hat es für mich im Gewölbekeller des Direktoriums ausfindig gemacht«, sagte Mark und nahm die zerschlissene Ledertasche vom Rücken. »Ich weiß immer noch nicht, wie ich das Lady Astrea erklären soll, wenn wir nach Agora zurückkehren«, sagte er, während er eine dicke Schriftrolle aus der Tasche hervorzog. »Ich weiß zwar, dass es im neuen Waage-Museum im Turm des Sterndeuters ein Faksimile gibt, aber das hier ist die letzte Originalversion. Eine unbezahlbare Antiquität.«
Lily lachte. »Lady Astrea muss sich vor Augen halten, dass sie nicht Direktorin ist. Jedenfalls war sie im Waage-Bund, oder nicht? Ich dachte, die haben es mit Symbolen.«
Mark grinste. »Ich glaube, das ist das Problem. Ihr gefällt nicht, was das hier symbolisiert, nicht im Geringsten. Und vor allem gefällt ihr nicht, dass es von mir kommt – sie redet mich nach wie vor nicht mit meinem Titel an.«
Lily hob die Augenbrauen. »Tja, ›Offizieller Berater des Empfangsdirektors‹ ist ja auch ein
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