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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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hohen Felsspitze, direkt unterhalb eines gewaltigen, auf dem Kopf stehenden Kegels aus Leuchtkristall, der von der Decke der Höhle herabhing. Er war offenkundig der Sockel des Mittelpunkts. Sie erhaschte einen Blick auf die Spitze eines Kopfschmucks, die funkelte wie ein Stern, auf die glitzernden Juwelen auf ihrem Umhang, die sich wie Sterne von einem Nachthimmel abhoben. Dann verwandelten sich diese glitzernden Punkte allmählich in eine Frau.
    Zumindest vermutete Lily, dass es sich um eine Frau handelte. Die Stimme, die sie gehört hatte, war die einer Frau gewesen, und zwar keiner besonders alten oder jungen. Doch das war auch schon der einzige Hinweis. Jeder Zentimeter ihres Körpers war eingehüllt in ein mit Juwelen besetztes Kleid, Kopfschmuck und Maske. Nein, es waren keine Juwelen, sondern widerhallende Kristalle, in denen Lichtpunkte tänzelten.
    Das Orakel saß so reglos da in ihrer Pracht, dass Lily einen Moment glaubte, sie müsse eine Statue sein. Dann bewegte die Gestalt den Kopf, und die gleiche Stimme hallte erneut durch die Höhle.
    »Sprich, Lilith.«
    Dieses Mal erklang sie lauter, aber nicht weniger kalt. Kein Funke Interesse war aus ihr herauszuhören, keine Wärme, aber auch keine Missbilligung. Noch nie hatte Lily eine Stimme gehört, die so gebieterisch und zugleich so gleichgültig klang.
    Lily spürte, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Statt etwas zu sagen, trat sie ein wenig näher, während sie sich allmählich an das sonderbare, verzerrende Licht gewöhnte. Sie hatte fast den halben Weg zum Thron hinter sich, befand sich auf halbem Weg über die schmale Felsbrücke, die sich über den Abgrund spannte. Ihre Schritte klangen unnatürlich, die Echos schwirrten in ihrem Kopf, bis ihr eigenes Näherkommen sich dröhnend wie eine Armee in ihren Ohren anhörte. Ihr wurde schwummrig. Unwillkürlich breitete sie die Arme aus, um ihr Gleichgewicht zu halten. Die Felsbrücke unter ihr wirkte dünn und zerbrechlich, und sie spürte, dass sie über den Rand zu stürzen drohte. Blitzartig fiel ihr die Warnung des Dirigenten ein, und sie sank auf die Knie. Als sie den Fels unter den Händen spürte, war ihr gleich ein wenig wohler, und sie kroch vorwärts, bis sie fast den Thron erreicht hatte.
    »Warum … warum fühle ich mich so?«, brachte sie heiser und undeutlich heraus, ohne wirklich eine Antwort darauf zu erwarten.
    »Die Resonanz in dieser Kammer ist gefährlich«, ertönte die Antwort, knapp und geschliffen. »Du wirst dich daran gewöhnen. Leg dich hin. Es wird vorübergehen.«
    Schwankend tat Lily wie ihr geheißen und legte die Wange an den kühlen Fels. Allmählich verebbten die Vibrationen, und Lily riskierte einen Blick hinauf. Von hier unten betrachtet, brach sich das Licht aus dem Mittelpunkt über ihr in den Kristallen auf der Krone des Orakels, wodurch ein Lichtkreis erzeugt wurde.
    Lily hob den Kopf. »Ich bin hier«, sagte sie zu dem Orakel.
    Eine Pause entstand. Lily rappelte sich auf die Knie, versuchte jedoch nicht weiterzugehen. Sie wollte nicht erneut hinfallen; falls sie von der Felsbrücke herunterglitt, würde es ein weiter Weg nach unten sein.
    »Ich kann sehen«, sagte das Orakel ohne jeden Anflug von Sarkasmus oder Verärgerung. »Du möchtest Antworten. Stelle deine Fragen.«
    Überrascht schaute Lily auf. »Einfach so?«, sagte sie. »Keine Einwände? Keine Rede, die mich darüber belehrt, ich sei noch nicht so weit, es erfahren zu dürfen?«
    »Mein Wesen ist die Wahrheit«, erwiderte das Orakel. »Frage.«
    Lily rappelte sich hoch. »Wer bin ich?«, fragte sie leise. »Warum hat mein Vater mich als Baby weggeschickt? Wo ist Mark? Geht es ihm gut? Ist er verletzt?« Ihre Stimme wurde lauter, je schneller ihr die Fragen über die Lippen kamen. »Warum sagen alle, wir wären bedeutend? Was steht im Mitternachts-Statut, das uns so besonders macht? Worum handelt es sich bei diesen Geheimnissen, die uns alle vorenthalten? Warum …?« Lily zögerte und verstummte. »Welche Rolle spielen wir, Orakel? Wohin gehören wir? Kannst du es mir sagen?«
    Ein lange Stille entstand. Lily hörte, wie ihre eigenen Worte sich zu den Klängen des Resonanzthrons gesellten und sich dem Gesumme der Millionen anderer Wörter anschlossen, die wie ein Miasma um das Orakel herumschwebten. Dann sprach das Orakel.
    »All das kann ich sagen.«
    Lily spürte, wie eine überwältigende Erleichterung sie überfiel. Sie hätte lachen wollen, vor Freude Luftsprünge vollführen. Schon

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